Lemberger Leiche
Ankunftshalle.
Irmas Missmut über Leo schwand, als Line ihr entgegengerannt kam, sie in die Arme schloss und willkommen hieß. Line hatte einen Sonnenbrand auf der Nase. Eine zusätzliche Farbnuance zu ihren zitronen-, karotten- und spinatfarbenen Haaren, die wie immer in alle Richtungen standen. Ihr orangefarbenes Schlabbertop war mit knallbunten Figuren und Zeichen bedruckt.
»Aha«, sagte Irma, »du trägst jetzt Klamotten mit Joan-Miró-Motiven. Hatte der nicht sein Atelier irgendwo an dieser Küste?«
Line nickte. Ihre Augen, rund und goldgelb wie Eulenaugen, strahlten. Sie drückte ihren fast nicht vorhandenen Busen gegen Mirós surrealistische Kunst, sagte: »Cool, gell!?« und dann: »Das Zimmer, das ich dir reserviert habe, ist in Cala Major. In dem Hotel, wo ich auch wohne. Es liegt ein paar Kilometer westlich von Palma.«
»Und wie kommen wir nach Cala Major?«
»Wir können ein Taxi nehmen oder den Flughafenbus, der braucht allerdings länger, weil er unterwegs an verschiedenen Hotels die Leute auslädt.«
Irma entschied sich für den Bus. Er wurde soeben von den eingeflogenen Touristen gestürmt. Irma und Line erwischten mit Ach und Krach die zwei letzten Plätze nebeneinander.
»Ich hab heute frei«, sagte Line. »Wir werfen nur das Gepäck in dein Zimmer, und dann machen wir uns einen schönen Tag.« Und als der Bus anrollte, begann Line unverzüglich ihre Reiseleiter-Weisheiten auszupacken: »Wir fahren über die Küstenstraße, auf der
Autopista de Llevant
. Sie führt entlang der Bucht von Palma.«
Da der Geräuschpegel der urlaubsfreudig-aufgeregten Touristen ständig an- und abschwoll, verstand Irma zeitweise von Lines Vortrag nur die Hälfte.
Gerade wollte sie Line scherzhaft vorschlagen, sich nach vorn neben den Fahrer zu setzen und das Mikro zu benutzen, da schrie Line: »Augen nach rechts! Die Kathedrale! Kulturhistorisches Highlight von Palma. Glanzstück gotischer Architektur!«
»Wieso Gotik?«, fragte Irma. »Mir scheint, der Kasten ist etwas gedrungen. Da fehlen doch die himmelstürmenden Türme wie beim Ulmer Münster und dem Kölner Dom.«
»Diese Kirchen in Ulm und Köln sind vielleicht von außen eleganter«, sagte Line und schien persönlich beleidigt. »Aber bevor du die
Sa Seu
von innen gesehen hast, kannst du gar nicht mitreden. Das Hauptschiff ist genauso hoch wie das des Kölner Doms, aber wesentlich breiter, und es gibt Seitenkapellen, da bleibt dir die Luft weg. In dem warmen südlichen Licht strahlen die farbigen Fenster und die berühmte Rosette, als wären sie aus Edelsteinen zusammengesetzt.«
Irma antwortete nicht darauf, weil sie nach der anderen Seite schaute. Das Meer! Der Hafen mit tausend Schiffen, darunter Kreuzfahrtriesen, so groß wie Hochhäuser.
Als sie von der
Autopista
abbogen, erklärte Line: »Sonst fahren die Zubringerbusse über die Umgehungsstraße umPalma herum, aber heute werden einige Gäste in Hotels der Altstadt abgeladen.«
Und schon holperte der Bus durch so enge Gassen, dass es Irma schleierhaft war, wieso er nirgends aneckte.
Nach einer reichlichen Stunde und vielen Haltepunkten erreichten sie gegen halb eins endlich das Quartier Cala Major. Der Bus hielt vor einem Betonsilo, das sich zwischen andere ähnliche Bettenburgen zwängte. Irma war enttäuscht.
Ihre Stimmung fiel auf den Nullpunkt, als sie in ihrem Zimmer die Vorhänge von den Fenstern zog und statt aufs Meer gegen die Fassade eines fünfstöckigen Hotels blickte.
Line sagte: »Ich gebe zu, dass Cala Major nicht die romantischste Ecke von Mallorca ist, aber die Zimmer sind preiswert. – In Cala Major regiert der Massentourismus. Junge Leute, die wenig Geld für ihre Unterkunft ausgeben wollen, finden hier ihren Spaß.«
»Wo gibt’s hier Spaß?«
»In El Terreno. Liegt ganz in der Nähe. Dort kann man durchfeiern. Reges Nachtleben nennt man das!«
»Ich werde keine Zeit für reges Nachtleben haben«, sagte Irma.
Line verteidigte den Ferienort: »Bevor diese Gegend vom Tourismus erobert wurde, hatte an dieser Bucht sogar der spanische König seinen Sommersitz. Und hoch oben über der Küste liegt das ehemalige Atelier von Miró! Er hat seine Villa verlassen, als ihm die Sicht aufs Meer verbaut werden sollte.«
»Du meine Güte, Line!«, sagte Irma. »Du quasselst los, als wärst du meine private Reiseleiterin.«
»Bin ich ja! Ich will dir ein bisschen was bieten. Dir die Insel näherbringen, sozusagen. Deswegen schlage ich vor, du packst erst heute Abend aus,
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