Lemberger Leiche
ein hysterisches Weibsbild aufs Bett geworfen und geheult. Sie nahm sich zusammen und versuchte, ihren Frust wegzuduschen. Es gelang ihr nicht.
Sie zog Joggingschuhe und Shorts an und rannte zum Meer. Aber dort gab es nicht mal eine Promenade zum Joggen, und der Sandstrand war viel zu kurz, um auch nur in Schwung zu kommen. Irma lief zurück zur Straße, die sich durch Cala Majors Bettenburgen schlängelte. Die Straßewar nach Joan Miró benannt, dessen verlassenes Atelier irgendwo hoch oben in den angrenzenden Bergen lag. Vielleicht auf dem Berg, der neben der Straße senkrecht in den Himmel emporstieg und von einer steinernen Stützmauer gehalten wurde. In diese Mauer waren fast unsichtbar Treppen eingebaut. Irma lief im Zickzack himmelwärts und rannte im Zickzack wieder hinunter. Nach dem dritten Sturm auf den Mauerkamm nahm sie sich endlich Zeit, übers Meer zu sehen. Links reichte der Blick bis Palma und rechts weit über Illetas und Portals Nous hinaus. Irma schnaufte und schwitzte von dem mörderischen Treppenlauf, aber die Aussicht verzauberte sie. Sie atmete tief durch und fühlte sich besser. Der Wind war warm und sanft und roch nach Meer und Fischen. Durch den Himmel, so unverschämt blau, wie sich das im Süden gehörte, schossen Möwen. Sie kreischten wie Autoreifen in Kurven, stießen herab auf den jetzt verlassenen Strand und stritten sich um Abfälle der Touristen. Irma hatte die Ellenbogen auf die Mauer gestützt und schaute und schaute, dachte, wie schön doch alles sein könnte, wenn …
Unversehens lehnte sich ein sonnenverbrannter Jüngling, in weiße Bermudashorts und ein blumenübersätes Hawaiihemd gekleidet, neben sie. Irma ordnete ihn in die Schublade »typischer Mallorca-Single-Urlauber« ein. Obwohl er penetrant nach Sonnenöl und Schweiß stank, erwiderte sie sein einschleimend-joviales »Hallo«. Sie war froh, mit jemanden reden zu können, um nicht dauernd an Leo denken zu müssen.
Nach kurzem Geplänkel: »Wo kommst du her?« – »Seit wann bist du hier?« – »Hast du heute Abend Zeit?« – »Disko oder Ballermann?« –»Gibst du mir deine Handynummer?« – »Du hast dein Handy weggeworfen? Spinnst wohl? Dann eben nicht.« – Der Jüngling ging von dannen.
»Tschüss denn«, sagte Irma und joggte die Mauer hinunter zum Hotel
Heutzutage, dachte sie, fragt man nicht mehr nach dem Namen, sondern nach der Handynummer. Wir sind Nummern.Im Hotelfoyer saß Aline und blickte Irma erwartungsvoll entgegen.
»Was willst du schon wieder?«, fragte Irma ziemlich unfreundlich.
»Leo schickt mich. Ich soll dich fragen, warum du sauer bist.«
Irma schluckte. »Kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?«
Als sie Lines betroffenes Gesicht sah, bereute sie, pampig gewesen zu sein. Schließlich hatte Line keine Schuld an dem Benehmen ihres Bruders. Und sie konnte auch nichts dafür, dass sie, Irma, von diesem Bruder bitter enttäuscht war und deswegen schlechte Laune hatte.
Line schob ihr Glas zu Irma: »Hier, nimm mal ’nen Schluck Wasser. Wie du dreinschaust, hat die Lauferei dein seelisches Ruinenfeld nicht aufbauen können. Also, lass hören, was dich auf die Palme gebracht hat.«
Irma erzählte von der Küsserei, die Leo vor dem Hotel mit der weiblichen Aerobic-Mannschaft veranstaltet hatte.
Und dann sagte sie wütend, aber mit wackliger Stimme: »Wenn so viel Intimität mit seinen Schülerinnen zu den Aufgaben eines Fitnesstrainers gehört, dann muss er auf mich verzichten.«
Line tippte sich an die Stirn und wühlte dann mit allen zehn Fingern unter ihrer buntgescheckten Stoppelfrisur. »Also, Intimität ist ja wohl was anderes!«, sagte sie gereizt. »Das sollte Frau Kommissarin zu unterscheiden wissen. Bei dem, was du beobachtet hast, Irma, handelt es sich doch höchstens um Freundschaft und Alberei. Hier auf der Insel wollen die jungen Leute Spaß haben und unbeschwert ihren Urlaub genießen. Und es gehört meines Erachtens tatsächlich zu den Aufgaben eines Animateurs oder Trainers, auf dieses Verlangen nach Vergnügen und Unbeschwertheit einzugehen. Natürlich gibt es auch Trainer, die das übertreiben, um in den offenen Armen von Singles zu landen. Aber Leo, dafür halte ich meine Hand ins Feuer, gehörtnicht zu denen. Er ist kein Spaßverderber, aber er weiß, wie weit er gehen kann.«
»Dass du deinen Bruder in Schutz nimmst, ehrt dich, Line. Aber mir ging das zu weit. Basta!«
»Lass mich gefälligst ausreden!«, sagte Line und goss Mineralwasser nach. »Ich
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