Lemberger Leiche
der sportliche Egon, lachte. Irma fand das gar nicht lustig und rieb die schmerzende Stelle an ihrer Schulter.
»Du meine Güte!«, schimpfte sie. »Ich wollte mich eigentlich nicht mit diesem Monster anlegen.«
Egon grinste und erklärte: »So ein Standboxsack reagiert durch ein Reflexsystem wie ein echter Gegner.«
»Mach keine blöden Witze«, zischte Irma.
»Das ist kein Witz«, versicherte Egon. »Mit dem Ding kannst du deine Schlagkraft, aber auch deine Reaktion und Koordination optimal trainieren.«
»Nein danke!«, sagte Irma. »Aber vermute ich richtig, dass es sich bei der Lederbombe, die da von der Decke baumelt, um einen sogenannten Boxsack handelt?«
»Erraten!« Egon zwinkerte Irma zu. »Wenn man ihn zärtlich behandelt, ist er völlig ungefährlich.« Danach zeigte er zur Zimmerdecke. »Da oben ist ’ne Klimmstange. Vielleicht will Kollege Katz ein paar Klimmzüge machen? – Nein? – Oder eine Dehnübung an der Sprossenwand?«
Egon hängte sich an die oberste Sprosse und versuchte seine Sportlichkeit zu demonstrieren. Da ihn aber sein Spurensicherer-Overall behinderte, gab er auf und machte sich wieder an die Arbeit.
Schmolls Augen wanderten von dem Boxsack zu einer Vibrationsplatte und blieben an einem Ergometer hängen.
Er schüttelte den Kopf, als könne er nicht glauben, was er sah, und murmelte: »Wer zum Teufel trainiert hier?«
Irma sagte: »Na, wer wohl? Da die körperliche Konstitution des jungen Mannes aus dem Kotzenloch nicht auf sportliche Betätigungen schließen lässt, kann es nur Frau Kurtz sein.« Und nach einer Denkpause, bei der sie mit wütenden Bewegungen ihren Haarschwanz fester unter das Gummiband zwängte: »Obwohl ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, wie diese seriöse Bankfilialleiterin auf einen Boxsack eindrischt.«
Das konnte sich auch keiner der Herren vorstellen, nachdem Irma das Jubiläumsfoto herumgezeigt hatte. Irma starrte gegen die Sprossenwand und meinte, dahinter das Gesicht der großen Schwester auftauchen zu sehen. Ein Gesicht hinter Gitterstäben.
Als sie mir auf dem Lemberg begegnet ist, dachte Irma, habe ich die Frau falsch eingeschätzt. Der Ärmel ihres Shirts war nur für einen Moment hochgerutscht. Wieso habe ich nicht gesehen, ob der Drache auf einem durchtrainierten Bizeps saß? Die Frau erschien mir weder dick noch besonders muskulös. Im Nachhinein habe ich ihren Körper wie den eines gutgenährten Fohlens in Erinnerung. Allerdings waren ihre Bewegungen zu träge, um sie mit einem Fohlen vergleichen zu können.
Irma entsann sich, wie die Frau die Kühltasche zwischen die Beine geklemmt hielt. In engen Hosenbeinen saßen stramme Waden. Waren das Muskelpakete gewesen?
Da der sportliche Egon inzwischen eine Etage höher gegangen war und im Moment keine sportfachlichen Auskünfte geben konnte, raunte Schmoll die Frage, die ihn umtrieb, dem Gnom zu, der ein Standboxsack war: »In welchem Maß entwickelt sich Muskulatur, die regelmäßig trainiert wird?«
»Ich werde Leo danach fragen«, antwortete Irma.
»Frag ihn auch, ob an solchen Geräten ein Training ohne Anleitung überhaupt möglich ist. Das würde mich persönlich interessieren.«
»Zu Befehl«, sagte Irma. »Ich werde ihn fragen.«
Sie versank in Gedanken an Leo, an seine Arme, die sie hochgehoben hatten, als ob sie ein Kind wäre. Sie dachte an seine Hände, die so zärtlich sein konnten. An sein übermütiges Lachen. An seine komische Frisur, die an ein geschecktes Kaninchenfell erinnerte. An das Grübchen in seinem Kinn, die einzige Gemeinsamkeit mit seiner Schwester Line. Irma dachte an Leo und daran, dass sie ihn bald wiedersehen würde. Auf Mallorca. Vielleicht schon morgen!
Plötzlich zuckte sie zusammen. Ein Tsunami aus Tönen raste aus den Lautsprecherboxen. Ein Heer von Streichern entfachte einen Feuersturm, brauste – summte, surrte wie ein Schwarm außer Rand und Band geratener Monsterinsekten. Unvermittelt wurde der Schwarm von Triumphschreien überstimmt. Eine Armee von Posaunen marschierte in den fiebrig summenden Schwarm hinein und stampfte über ihn hinweg. Die Insekten gerieten in Panik, duckten sich, winselten und verstummten.
Die Stille kam so abrupt, dass Irma meinte, in ein Loch zu fallen.
Wie aus weiter Ferne hörte sie Katz sagen: »I hab den Player ausgstellt.«
Irma hatte die Musik erkannt. Sie trat zu Katz an das Regal, in dem CDs aufgereiht standen. Hunderte.
»I ben mer fast sicher, dass da koi einzige Note, die Wagner je
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