Lemberger Leiche
nächste Schülerin wartet.
Das kommt der Schönen heute gelegen, diesmal hält sie Tom nicht auf. Sie hat ein Date mit Vladimir.
Tom küsst sie und flüstert Unanständigkeiten in ihr Ohr: Schlüpfriges. Zweideutiges. Schamloses. Sie lacht und stößt zustimmende Seufzer aus, bis er fertig ist und geht.
Als er außer Sichtweite ist, erhebt sie sich, nimmt einen Spiegel aus ihrer Badetasche und frischt Frisur undMake-up auf. Mit geübtem Griff schlingt sie sich ein Chiffontuch um die Hüften und schreitet zur Poolbar. Sie setzt sich an eines der hohen Tischchen und gibt José ihre Bestellung auf: Champagner und frisch gepressten Orangensaft. José geht ihr nur knapp bis zur Schulter. Dieser Höhenunterschied konnte nicht verhindern, dass sie sein spanisches Herz in Flammen gesetzt hat. Nur ungern löst er seinen Blick von ihrem Dekolleté und trippelt eilfertig zum Büfett, um ihren Drink zu holen.
Ich hätte José nicht in mein Bett lassen sollen, denkt sie. Wie krieg ich ihn bloß wieder los?
Nachdem er die Getränke vor sie hingestellt und ihr eingeschenkt hat, berührt seine kleine, schmale Hand wie unabsichtlich ihre Schulter.
»Danke, José«, sagt sie. »Muchas gracias.«
Er flüstert: »De nada«, und übersetzt lächelnd: »Gern geschehen.«
Seine schwarzen Glutaugen brennen und saugen sich mit unterwürfigem Hundeblick an ihrem Bauchnabel fest. Er reißt sich davon los, weil andere Gäste nach ihm rufen.
Seit einer Stunde schlenderten Irma und Line über die Sonnenterrassen und durch den Hotelpark. Sollte die Gesuchte in diesem Hotel wohnen, konnte sie genauso gut auf einen Morgenspaziergang durch das Villenviertel Son Vida gegangen sein, um sich für die nächste Luxusmahlzeit Appetit zu machen. Sie konnte auch hinunter nach Palma zum Shoppen gefahren sein. Oder mit dem Shuttlebus zum Strand.
Dass Irma und Line zwischen den Liegen umherwanderten, störte niemanden. Es war nicht ungewöhnlich, hier nach Freunden zu suchen. Die meisten Sonnenanbeter dösten mit geschlossenen Augen und arbeiteten an ihrer Urlaubsbräune. Manche unterhielten sich: auf Englisch, Russisch oder auf Deutsch. Irma und Line schnappten Meinungsbildungen auf;über die Speisepläne, übers Wetter, über andere Gäste und über abendliche Unternehmungen in Bars und Diskotheken.
»Andere Sorgen scheinen die Leute nicht zu haben«, sagte Irma.
»Die haben ihr Gehirn schon beim Einchecken auf dem Flugplatz abgegeben«, sagte Line.
Im Nachhinein war Irma klar, dass sie mindestens drei Mal an der Gesuchten vorbeigegangen war, ohne sie erkannt zu haben. Als sie das Tattoo bemerkte, musste sie einen kleinen Begeisterungsschrei unterdrücken. Auf dem kräftigen, wohlgeformten Oberarm saß ein grüngoldener Drache, der Feuer auf den Ellbogen spie. Irma flüsterte Line zu, wer da im Schatten der Palme lag. Sie setzten sich auf eine in der Nähe stehende Bank und kamen schon nach kurzer Zeit in den Genuss, die Szene mit Tom zu beobachten. Sie behielten Brünnhilde Kurtz im Fadenkreuz, als sie an die Bar ging und sich auf einen der thronartigen Hocker schwang.
Nachdem José eine Weile um sie herumgedienert war und sie den ersten Schluck Champagner genommen hatte, zischelte Irma: »Attacke!«
Während Line mit dem Fotoapparat zurückblieb, näherte sich Irma ihrem gesuchten Objekt und rief begeistert: »Welch ein reizender Zufall, uns hier wiederzutreffen!« Sie haschte nach Frau Kurtz’ Hand und schüttelte sie, als hätte sie eine lang entbehrte Freundin wiedergefunden. Mit einem fröhlichem »Sie gestatten doch« setzte sich Irma auf den Barhocker gegenüber.
Frau Kurtz’ verschönertes Gesicht verzog sich und verlor seinen Glanz. Ihre Stimme klang knurrig wie die eines Hundes, der einen Feind wittert.
»Ich kenne Sie nicht. Und ich möchte Sie bitten, diesen Tisch zu verlassen, weil ich auf jemanden warte!«
»Aber der Jemand braucht doch gewiss nicht drei Plätze«, sagte Irma lächelnd. »Außerdem kann ich ja gehen, falls er kommt und ich störe.«
Irma registrierte, dass Frau Kurtz’ Stimme nicht nur knurrig geklungen hatte, sondern auch erschreckt. Das bedeutete, Frau Kurtz hatte sie erkannt! Um dem noch etwas nachzuhelfen, plauderte Irma unbekümmert drauflos und erinnerte an das Weinblütenfest auf dem Lemberg.
»Gell, nun erkennen Sie mich wieder! Das ist doch erst zwei Wochen her. Sie hatten Ihre kleine Schwester dabei. Ein hübsches, nettes Mädchen. Ist sie auch hier? – Nein? – Ich dachte nur, weil Sie
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