Lemberger Leiche
die Schöne ihre langen Beine an und angelt mit frisch manikürten Händen nach der Designer-Sonnenbrille, die auf dem Tischchen neben einem orangefarbenen Drink liegt. Zärtlich platziert sie die Brille auf ihrer schmalen Nase und bedeckt damit die dezent getuschten Wimpern und die stahlblauen Augen. Sie schiebt die Bügel so, dass die Bögen der sorgfältig gezupften Brauen frei bleiben. Das wirke aristokratisch, hatte Tom ihr gestern gesagt. Sie lächelt glücklich, als sie an die Nächte mit Tom denkt.
Seit sie hier angekommen ist, hat sie sich eine ganze Kollektion schicker Klamotten gekauft und sich von berufenen Händen stylen lassen. Wider Erwarten hat sie sich mit der neuen Person, in die sie sich verwandelt hat, sofort identifizieren, sich in ihr wohlfühlen können, wie nie zuvor in ihrer Haut.
Und sie hat die überraschendste Erfahrung ihres Lebens gemacht: dass Männer große Frauen mögen. Seither genießtsie bewundernde Blicke, die ihr folgen: am Strand, auf der Promenade, im Fitnessraum oder im Speisesaal. Sie rekelt sich und denkt: Habe ich vierzig Jahre alt werden müssen, bis mir ein derartiges Wunder passiert?
Sie stellt die Kopflehne flach, nimmt ihren MP3-Player und hört die Musik, nach der sie süchtig ist. Mit geschlossenen Augen lauscht sie dem Vorspiel zum dritten Aufzug zu
Siegfried
. Das Motiv des
Walkürenritts
erregt sie. Sie meint, selbst mitzureiten. Kann kaum noch stillliegen.
Sie wartet auf Tom.
Später gleitet sie mit den Tönen durch das
Siegfriedmotiv
in den
Feuerzauber
. Danach, so weiß sie, kommt das
Liebeserwachen
. Siegfried würde sie küssen und erlösen.
Und da spürt sie den Kuss. Tom ist gekommen. Für sie ist er Siegfried. Groß, stark und blond. Ihr Recke. Ihr Held, der sie liebt. Sie zieht ihn lächelnd neben sich, hält ihn fest und steckt ihm einen der kleinen Lautsprecher ins Ohr. Gemeinsam hören sie den
Liebesgesang
von Brünnhilde und Siegfried. Sie klammern sich aneinander, bis die Musik in purer Leidenschaft verklingt.
Tom setzt sich auf. Ihm ist das zu viel Oper. Aber das sagt er nicht. Er denkt: Die ist leicht bekloppt. Aber sie ist schön. Und sie hat Geld. Er lächelt sie an, bewegt seine Hände auf ihren festen Schenkeln.
Tom ist Tennislehrer. Er sieht sich in dieser Branche als freischaffender Künstler, mehr noch als Lebenskünstler. Tom ist beliebt und gefragt. In den Nächten betreut er Singles. Weibliche oder auch männliche, aber das weiß die Schöne auf der Liege nicht. Seit acht Tagen befasst sich Tom ohne Ausnahme nur mit ihr. Sie gefällt ihm, aber noch mehr gefällt ihm, dass sie spendabel ist. Einmal, als sie darauf bestanden hat, ihm eine sündhaft teure Lederjacke zu kaufen, hat er sie gefragt, woher sie das viele Geld habe.
»Im Lotto gewonnen«, hat sie gesagt und gelacht.
Tom hat im Laufe seiner Karriere als Herzensbrecher Erfahrungen gesammelt: Frauen, die mit Vermögen um sichwerfen, sind gut versorgte Geschiedene oder Witwen reicher Männer. Keine der großzügigen Damen gibt hier selbstverdientes Geld aus. Eine Frau, die im Lotto gewonnen hat, ist ihm noch nie untergekommen. Tom, der zwar siegfriedgleich anzusehen, aber einfach gestrickt ist, hat der Schönen die Story mit dem Lottogewinn geglaubt. So genau will er es gar nicht wissen, wo das Geld herkommt, das sie für ihn ausgibt.
Wenn man von ihrem Musiktick absieht, denkt Tom, ist sie unkomplizierter als so manches andere begüterte Dämchen, das sich hier aus Langeweile an mich ranmacht. Diese Musik, von der ich früher noch nie eine Note gehört habe, ist mir zwar lästig, aber ich kann mich immerhin davor retten, wenn ich den Ohrstöpsel, den sie mir aufdrängt, unbemerkt ablege. Außerdem lässt sie sich gern mit anderen Dingen ablenken, von denen ich mehr verstehe als von klassischer Musik. Irgendwann, wenn ich sie satt habe oder ihr das Geld ausgeht, denkt Tom, werde ich sie sowieso los, weil dann auch ihr Urlaub zu Ende sein wird.
Irgendwann werde ich Tom in die Wüste schicken, denkt die Schöne – aber erst muss ich Vladimir zuverlässig eingewickelt haben. Ich kann auf die Dauer kein Geld für andere ausgeben. Doch Vladimir ist bereit, sein Geld für mich rauszuwerfen. Und er scheint reich zu sein, wesentlich reicher als ich.
Als sich Tom und die Schöne voneinander lösen, bedauert er, dass sie nicht auf ihr Zimmer gehen können, um das Wichtigste und Aufregendste, was sie miteinander teilen, zu erledigen. Er muss wieder auf den Tennisplatz, weil seine
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