Lemberger Leiche
Polizei soll gefälligst sofort was tun!«
»Ja, Leo. Aber wie stellst du dir das vor? Was soll die Polizei tun?«
»Suchen! Line suchen und aus der Gewalt dieser Verrückten befreien. Hast du nicht gesagt, die Frau ist zu allem fähig? Du hast sogar behauptet, sie geht über Leichen!«
»So ist es, Leo. Ich bin doch selbst völlig neben der Kappe vor Sorgen. Aber wenn Line nichts passieren soll, würde ich in diesem Fall die spanische Polizei vorerst lieber aus dem Spiel lassen.«
»Aha!«
»Selbst wenn die Polizei alle Forderungen von Frau Kurtz erfüllen würde, glaube ich nicht, dass Line dadurch freikäme. Die Frau will Zeit gewinnen, um sich später unbemerkt aus dem Staub machen zu können.«
»Und was macht sie vorher mit Line?«
»Ich hoffe, nichts Schlimmes. Kannst du nicht zu mir kommen, Leo, und wir beraten in Ruhe, was wir tun könnten?«
Zum ersten Mal, seit Leo Fitnesskurse gab, ließ er seine Schüler mitten in der Stunde im Stich und fuhr nach Cala Major zu Irma.
Ihre weiteren Gespräche verliefen genauso hilflos wie das Telefongespräch. Leo war hochgradig nervös. So gereizt, wie Irma ihn noch nie erlebt hatte.
Ja, dachte sie, kenne ich ihn denn?
»Sieh mich nicht so an, Leo«, sagte sie. »Ich weiß, was du denkst.«
»Und was denke ich?«
»Du denkst: Hätte ich mich nicht mit einer Kripokommissarin eingelassen, wäre meiner Schwester nichts passiert.«
»Ja, stimmt das denn nicht, Irma? Line wäre ohne deine blödsinnigen Ermittlungen nicht entführt worden!«
»Ist es dir eine Genugtuung, mich zu beschuldigen? Kann davon was besser werden?«
Irma spürte, es fehlte nicht mehr viel und sie würden sich anschreien. Aber wie hätte Leo auch anders reagieren sollen?
Er sah sie nicht an und sagte schließlich: »In einem hast du recht: Die Polizei sollte wegen Lines Entführung nicht alarmiert werden. Ich werde Line selbst suchen.«
Irma atmete auf, sie war der gleichen Meinung. Nur dass Leo »
Ich
werde Line suchen« gesagt hatte und nicht »
Wir
«,schmerzte sie. Sie fragte ihn fast schüchtern, ob sie die Suche nach Line nicht gemeinsam angehen sollten.
»Wenn Frau Kommissarin, ohne die spanischen Kollegen zu informieren, auf Verbrecherjagd gehen darf!?«
»Darf sie nicht«, sagte Irma. »Aber sie tut es.«
»Hat Frau Kommissarin eine Idee, was wir tun könnten?«
Irma sagte, dass sie sich nochmals im Schlosshotel
Castillo
umhören wollte, und fragte Leo, ob er sie hinfahren könne. Wenn nicht, würde sie ein Taxi nehmen.
»Ich fahr dich hin, wenn du willst«, sagte er. »Aber was versprichst du dir davon? Du hast erzählt, ihr hättet gestern schon stundenlang das Zimmer dieser Frau durchgecheckt. Ohne Erfolg, wie du zugegeben hast.«
»Es steht aber fest, dass Frau Kurz noch auf der Insel ist.«
»Wie willst du da so sicher sein?«
»Das verrät sie in dem Brief an mich. Wenn sie nicht mehr hier wäre, bräuchte sie mich nicht aufzufordern, Mallorca zu verlassen.«
»Aber inzwischen wird sie heute Morgen aus dem Radio oder der Zeitung erfahren haben, dass sie gesucht wird.« Leo schüttelte den Kopf. »Deswegen wird sie sich hüten, wieder im Hotel aufzutauchen. Bildest du dir etwa ein, sie würde dort auf dich warten?«
»Nein, das nicht«, sagte Irma kleinlaut. »Du hast recht: Sie hält sich irgendwo versteckt, irgendwo auf der Insel. Und sie hat Line dorthin mitgenommen – wie auch immer das passieren konnte. Da ich aber nicht weiß, wo ich mit der Suche beginnen soll, und die letzte Spur, die ich von ihr habe, im
Castillo
ist, möchte ich dort noch mal hin.«
»Okay«, sagt Leo. »Fahren wir.«
Line friert und ihr schmerzen alle Glieder, weil sie auf einer dünnen Decke liegt. Oder ist es ein Sack? Es fühlt sich an, als sei festgetretene Erde darunter. Line weiß nicht, was ihr geschehenist. Sie hat keine Ahnung, wie sie hierhergekommen ist und wie lange sie schon hier liegt. Ihr scheint, als seien es viele Stunden gewesen. Manchmal ist sie vor Müdigkeit weggedöst. Richtig geschlafen hat sie nicht. Sie will auch nicht schlafen, weil sie nachdenken muss. Aber Nachdenken ist schwierig, wenn man müde ist, wenn man friert und einem alles wehtut. Es ist stockdunkel und sehr still um sie her. Nur manchmal meint sie, einen Lichtschimmer zu sehen, einen dünnen Streifen, der auf dem Boden liegt und etwa die Breite einer Tür hat. Zwei oder drei Mal hört sie Geräusche, die sie für Schritte hält. Schwere, feste Männertritte. Als der Lichtstreifen wieder
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