Lemberger Leiche
Palma entfernt. Bald darauf hat der Wagen die Autobahn verlassen und ist auf eine Nebenstraße gewechselt. Dadurch wurde die Fahrt langsamer. Ich habe gejammert, dass ich pinkeln müsse, und da hat der Wagen tatsächlich angehalten. Mich hat ein freudiger Schreck durchzuckt, als der Mann ausgestiegen ist und den Vordersitzt gekippt hat. Ich hab gedacht, er wollte mir heraushelfen. Meine Freude ist in Todesangst umgeschlagen, als ich das Chloroform gerochen und den Wattebausch auf meinem Gesicht gefühlt habe.
Als ich wieder zu mir gekommen bin, holperte der Wagen über einen Feldweg. Es dämmerte. Wir fuhren durch einegottverlassene Gegend mit ausgetrocknetem Ackerland. Ich merkte, dass meine Hände gefesselt waren.
Der Wagen hielt vor einem Gartentor. Ich erkannte hinter dem schadhaften Zaun die Umrisse eines Gebäudes. Unvermittelt tauchte eine Frau neben dem Wagen auf. Sie trug Jeans und ein kariertes Männerhemd. Allein schon durch ihre Größe brachte ich sie mit der Frau im Park des Hotels
Castillo
in Verbindung. Es war zweifelsfrei Frau Kurtz.
Ja, denkt Line und starrt in die Dunkelheit ihres Gefängnisses, so ist es gewesen, jetzt fällt mir alles wieder ein: Frau Kurtz befahl mir auszusteigen und schob mich vor sich her zu dem Haus, das ich für eine verlassene Finca hielt. Als wir drinnen waren, versuchte ich, durch ein Fenster abzuhauen. Aber wie sollte das gelingen, da doch meine Hände gefesselt waren? Die Frau zog mich zurück und legte mich wie eine Puppe über ihre Schulter. Obwohl ich wie besessen schrie und strampelte, trug sie mich in die Mitte der Stube. Mir war schleierhaft, woher die Frau so viel Kraft hatte, mich festzuhalten.
Dann lag ich auf dem Fußboden, und sie stellte einen Fuß auf meinen Bauch, was mir die Luft nahm und mich verstummen ließ. Sie lachte hämisch zu mir herunter.
»Wenn du nicht brav bist, muss ich streng werden.«
Sie kam mir vor wie ein Dämon, und ich fing an zu schreien. Da griff sie hinter sich, und im nächsten Moment fühlte ich den Wattebausch auf Mund und Nase. Ab diesem Punkt weiß ich nichts mehr, bis ich hier in diesem Verlies aufgewacht bin. Oder ist das eine Gruft? Wenn es hier doch nicht so verdammt kalt und dunkel wäre!
Line spürt etwas an ihren Beinen kitzeln. Eine Spinne? Oder Kellerasseln? Sie ekelt sich, aber schlimmer ist die Kälte. Line trägt nur ein leichtes T-Shirt und Bermudashorts. Ihre Kiefer zittern und schlagen aufeinander. Es hört sich an, als trommelt ein Specht auf Porzellan.
Ich muss die Decke suchen, auf der ich lag, als ich aufgewacht bin, denkt sie. Ich werde mich darin einwickeln, damit meine Zähne nicht mehr klappern. Oder ich muss mich bewegen,um weniger zu frieren. Sie rappelt sich auf, wirft die Arme auseinander und vor der Brust wieder zusammen und hüpft auf der Stelle. Aber gleich erstarrt sie vor Schreck, als es blechern scheppert, ein Geräusch, das hohl von den Wänden widerhallt. Ihr Fuß hat einen Eimer umgestoßen. Sie kapiert, dass das ihre Toilette sein soll, und benutzt sie sofort.
Brünnhilde Kurtz ist die steile Kellertreppe hochgestiegen und hat oben eine Tür hinter sich verschlossen. Der niedrige Raum, den sie betritt, ist der, in dem sie am Tag zuvor Lines Flucht durchs Fenster vereitelt hat. Diese geräumige Wohnküche, in der sich früher vermutlich das gesamte Familienleben abgespielt hat, wirkt, als wäre sie jahrelang nicht bewohnt worden. Frau Kurtz nimmt einen Reisigbesen aus der Ecke und fegt mit wütenden Bewegungen den Staub von einem Stuhl. Sie stellt ihn vor eins der kleinen Fenster, setzt sich darauf und starrt hinaus. Der Vorgarten der verlassenen Finca ist verwahrlost. Nur wilder Mohn, Rittersporn und Margeriten haben sich behauptet und blühen in der flimmernden Sonne um die Wette.
Brünnhilde interessiert sich nicht für Gärten und Blumen, sie stützt das Kinn in die Handballen und flüstert: »Soll alles umsonst gewesen sein?«
Mit einem Ruck reißt sie die Arme hoch und ballt die Fäuste. Sie vermisst ihren Boxsack. Am liebsten würde sie gegen die Wände boxen. Hastig zieht sie den MP3-Player aus der Hosentasche und stellt auf Walkürenritt. Sie legt die Stirn aufs Fensterbrett und lässt sich von der wilden Jagd der Musik forttragen. Sie fühlt sich als Walküre.
»Walküren haben die Fähigkeit, ihr Schicksal zu fügen«, wispert sie. Und dann schreit sie gegen die Posaunen an: »Ich habe mein Schicksal bis hierher gefügt und werde mein Ziel nicht aufgeben!« Sie hebt den
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