Lemberger Leiche
ein Safe, der offen stand und leer war.
Irma riskierte einen Blick ins Bad und sah eine perfekt ausgestattete Wellness-Luxusoase. Danach betraten Irma und Fernández gemeinsam wie ein erwartungsvolles Liebespaar einen Traumraum, in dem die Gardinen zugezogen waren. Die gedämpfte indirekte Beleuchtung mutete wie Kerzenlicht an. Irma empfand die Raumausstattung inOckergelb und Burgunderrot erotisierend und konnte nicht umhin, sich vorzustellen, mit Leo in dem riesigen Doppelbett zu liegen.
Um ihre Illusionen zu verscheuchen, erinnerte sie Fernández, der scheinbar ähnlichen Gedanken nachhing, da seine Augen plötzlich mit einem Schlafzimmerblick verhangen waren, die Spurensicherung herzubestellen. Er seufzte und zog sich ins Wohnzimmer zurück. Irma sah, wie er sich auf einem rotgoldenen Sessel niederließ und sein Telefon hervorzog.
Irma seufzte auch, streifte sich ein Paar der völlig unerotischen Plastikhandschuhe über und öffnete die Türen des Kleiderschrankes. In diesem gigantischen Einbaumöbel befanden sich offensichtlich nur Kleidungsstücke, mit denen Frau Kurtz vor zwei Wochen angereist war. Irma sichtete altjüngferliche Blusen und Röcke, Schnürschuhe und Sandalen mit flachen Absätzen und fand in einer Schublade ein Häufchen biedere Unterwäsche.
Ist es möglich, dachte Irma, dass die schöne Frau, die ich gestern im Park gesehen habe, in Betracht zieht, diese Klamotten noch irgendwann aufzutragen? Wieso hat Frau Kurtz das Zeug nicht in den Müll geworfen?
Zum wiederholten Mal fragte sich Irma, wie viele verschiedene Persönlichkeiten in dieser Frau schlummerten. Es war ihr klar, dass das Verschwinden von Brünnhilde Kurtz das Resultat ihrer gestrigen Begegnung im Hotelpark war, und sie grübelte, ob es ein Fehler gewesen war, sie angesprochen zu haben.
Aber wie hätte ich anders herausfinden können, dass Frau Kurtz etwas zu verbergen hat?, dachte Irma. Und sie hat etwas zu verbergen! Ihr ist auch sofort eingefallen, dass ich Kripobeamtin bin und da hat sie Muffensausen bekommen. Außerdem bin ich jemand, durch den sie sich an ihr früheres Leben erinnern musste, daran, dass sie bis vor kurzem noch als graue Maus diszipliniert und tüchtig eine Bankfiliale geleitet hat. Vielleicht hat sie sich einen lebenslang gehegtenTraum erfüllt, kein Entchen mehr zu sein, sondern endlich ein Schwan. Hat sie, um dieses Ziel zu erreichen, einen Raub und einen Mord begangen? Wollte sie sich, da sie nur bis Mallorca und nicht viel weiter weg geflohen ist, ein Hintertürchen in ihr altes Leben offenhalten?
Irma wurde in ihren Überlegungen gestört, weil zwei Männer der Spurensicherung eintrafen und sich an die Arbeit machten. Einer suchte nach Fingerabdrücken, der andere machte eine Bestandsaufnahme der Dinge, die persönliches Eigentum der Bewohnerin dieses Zimmers waren.
Irma verschränkte die Arme vor der Brust und brütete weiter. Was an Frau Kurtz’ Verhalten war wichtig? Was nebensächlich? Sie sah den Spurensicherern zu, ohne sie wirklich zu sehen. Sie war ganz damit beschäftigt, die Psyche der Frau, nach der sie suchte, zu begreifen.
Da Irma sowieso nichts von den Gesprächen der Spanier verstand, hatte sie die Männer völlig ausgeblendet. So bemerkte sie die Ursache von deren plötzlicher Aufregung erst, als Fernández ihr einen Brief unter die Nase hielt. Das Kuvert hatte in einem Buch gesteckt. In dem einzigen Buch, das hier herumlag. Der Autor hieß Joseph Conrad, der Titel lautete
Herz der Finsternis
. Irma vermutete einen Herz-Schmerz-Roman dahinter. Viel interessanter fand sie den Brief. Er war an Bosede Berhane in Backnang gerichtet und an den Absender Erik Raabe nach Feuerbach zurückgekommen.
Das Schreiben, das Irma aus dem Kuvert zog, war zerknittert, als wäre es oft gelesen oder mindestens ein Mal aus Wut zerknüllt worden. Irma setzte sich an den Schreibtisch, strich das Blatt glatt und las.
Stuttgart, 20. Juni
Meine süße Bonnie
,
ich konnte gestern nicht zu unserer Verabredung kommen, weil meine Tante mir gedroht hat, mich aus ihrem Haus zu werfen, wenn ich noch einmal eine Nacht wegbleibenwürde. Sie hat mir mein Handy abgenommen und den PC zertrümmert und auf den Sperrmüll geworfen – deswegen bekommst du heute auf altmodischste Weise einen Brief. Du weißt, ich habe dieser Frau viel zu verdanken, aber nun ist Schluss – ich will wieder mein eigenes Leben haben und zwar mit dir, meine Bonnie
.
Die Tante behauptet, ihre Ersparnisse sind aufgebraucht. Aber ihre
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