Lemberger Leiche
Wahrheit ihrer Aussage bestätigen lassen konnte.
Eine halbe Stunde später hatte der Alte den anderen Dorfbewohnern die Sachlage erklärt. Die Wogen glätteten sich und die berühmte Gastfreundschaft der Mallorquiner kam an die Oberfläche. Irma wurde zum Kaffee eingeladen, um gemeinsam dem Großereignis, das dem Dorf bevorstand, die Ankunft der Kriminalpolizei, entgegenzufiebern.
Irma, nun mit Dolmetscher ausgestattet, bedankte sich artig für die Einladung, sagte aber, sie müsse sich jetzt auf die Suche nach Frau Kurtz machen. Daraufhin berichtete der deutschsprachige spanische Engel, er habe gestern Abend auf der anderen Seite des Dorfes in der Nähe des ehemaligen Weinlagers eine Fremde gesehen. Er bot Irma an, sie hinzuführen. Sie lehnte dankend ab, ließ sich aber den Weg erklären. Sie sagte, dass sie sich so unauffällig wie möglich anschleichen wolle, damit die gesuchte Person ihr nicht entwischen könne.
Oh ja, das verstand man – das war wirklich eine spannende Abwechslung im Alltag des kleinen Dorfes. Die Leute versprachen eifrig, die Stellung zu halten und den Kriminalinspektor aus Palma, sobald er einträfe, hinüber zum Weinlager zu führen.
Leo hatte indessen Frau Kurtz vor ebendiesem Weinlager aus den Augen verloren. Sie war zwischen die Oleanderbüschegeschlüpft und so schnell verschwunden, dass sich Leo fragte, ob sie je da gewesen war. Ein Weilchen schritt er ratlos vor der Hecke auf und ab. Dann bog er an der Stelle, die Frau Kurtz verschluckt hatte, einige Zweige auseinander. Er entdeckte eine Feldsteinmauer, aus der ein Loch gähnte. Ein schmales Tor führte ins schwarze Innere. Leider übersah Leo dabei etwas anderes: den Knüppel, der plötzlich in sein Genick sauste, ihn zu Boden gehen ließ und seine Sinne ausknipste.
Als seine Lebensgeister etappenweise zurückgeflackert waren, stellte er fest, dass er an Händen und Füßen gefesselt war. Langsam gewöhnte er sich an die Dunkelheit. Er lag in der Ecke eines höhlenartigen Raumes. Über ihm waren die Felswände zu einer niedrigen Kuppel zusammengewachsen. Mühsam drehte er seinen schmerzenden Kopf zur Seite und erkannte Line. Sie kauerte neben ihm und flüsterte unentwegt seinen Namen.
»Line«, sagte er leise, »kannst du mir die Fesseln durchschneiden? In meiner Hosentasche muss ein Messer sein.«
Line konnte ihm nicht helfen, denn selbst, wenn das Messer noch da gewesen wäre, hätte sie es nicht aus der Tasche nehmen können, weil auch ihre Hände gefesselt waren.
»Ich bin so durstig«, hörte Leo sie wispern. »Und ich hab fürchterlichen Hunger!«
Leos Beschützerinstinkt, mit dem er zwanzig Jahre lang seine jüngere Schwester umsorgt hatte, ließ seine Kräfte zurückkehren. Gleichzeitig erfasste ihn ein abgrundtiefer Hass auf diese furchtbare Frau. Leo war davon überzeugt, Frau Kurtz hatte der Hunger ins Dorf getrieben. Er war sich sicher, dass sie draußen vor der Höhle saß und sich die geklauten Nahrungsmittel schmecken ließ. Als er seine kleine Schwester ansah, die vor Durst hechelte wie ein junger Hund, musste er sich zusammenreißen, um seine Verzweiflung nicht herauszubrüllen. Er wusste nicht, wie lange er bewusstlos gewesen war. Und er hatte keine Ahnung, wie spät es sein konnte.
Trotz des Dämmerlichts sah er, dass die Bandagen um seine und Lines Hände und Beine Heftpflasterstreifen waren. Er verließ sich auf seine gesunden Zähne und biss und riss an Lines Fesseln, bis sie die Hände frei hatte. Danach war es für Line nicht schwierig, auch alle anderen Fesseln abzureißen.
In dem Augenblick, als sie sich endlich in die Arme fallen wollten, hörten sie Schritte. Bevor Brünnhilde Kurtz in der Höhle erschien, hatte sich Leo wieder hingelegt und stellte sich ohnmächtig. Er rechnete damit, dass sie sich an die Dunkelheit gewöhnen musste und sein Manöver nicht sofort durchschauen konnte. Doch dann roch Leo das Chloroform und hörte gleichzeitig Lines Schrei, der wie ein warnender Kiebitzruf klang. Leo riss die Augen auf und sah den Wattebausch in Frau Kurtz’ Hand. Sie schien im Begriff zu sein, die getränkte Watte auf sein Gesicht zu drücken.
Leo sprang auf die Beine und versuchte, den Wattebausch an sich zu bringen. Er hatte vor, das Blatt zu wenden und Frau Kurtz mit dem Chloroform außer Gefecht zu setzen. Ihre treffsichere und abrupt geschlagene Gerade gegen seinen Kopf verhinderte das. Vor seinen Augen flimmerte es.
Mit aller Willenskraft schüttelte er seine Benommenheit ab und
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