Lemberger Leiche
Persönlichkeit. Sie passt sich ihrer Umgebung an, wie sie es gerade für ihre Pläne braucht.«
Leo lugte um die Hausecke zu der Frau, die vor dem Laden stehen geblieben war.
Irma flüsterte aufgeregt weiter: »Sie hat in der Finca dieses Sackkleid und das Tuch gefunden. Sie hat ihr Make-up aus dem Gesicht gewischt, ihre neuen Kleider und Schönheitsmittelchen bei dem hektischen Aufbruch im Stich gelassen und spielt nun die arme Pilgerin.«
Leo, der Frau Kurtz nie zuvor gesehen hatte, beobachtete die Frau, wie sie sich an der Ladentür zu schaffen machte. Sie schien sich sicher zu fühlen, denn sie schaute sich nicht einmal um. Bevor die Tür aufsprang, knirschte es, als sei ein Werkzeug, vielleicht ein Schraubenzieher, benutzt worden. Die Frau schlüpfte durch die Tür und zog sie hinter sich zu.
Als sie nach zehn Minuten wieder auftauchte, trug sie zwei prall gefüllte Einkaufsbeutel. Das Kopftuch war ihr ins Genick gerutscht. Irma sah, dass sie die Haare abgeschnitten hatte. Ihre neue Frisur zeigte die Struktur eines Handfegers. Niemand hätte sie aufgrund der Fahndungsbeschreibung erkennen können.
»Ich gehe ihr nach«, sagte Leo. »Wenn es wirklich Frau Kurtz ist, wird sie dahin gehen, wo Line ist. Du musst hier warten, Irma. Lass dich nicht blicken, sie würde dich erkennen.«
»Und wenn sie dich entdeckt?«
»Sie wird mich für einen Touristen halten, der sich in dieses gottverlassene Dorf verirrt hat. Warum sollte sie auf die Idee kommen, dass ich ihr auf den Fersen bin?«
Irma nickte und setzte sich in den Schatten eines Feigenbaumes auf ein Mäuerchen. »Okay. Warte bitte noch einen Moment! Ich versuche, Fernández zu erreichen, um unseren Standort durchzugeben. Wir brauchen Verstärkung.«
So ein Pech, dachte sie, während sie Fernández’ Nummer eingab, heute hätte ich gern meine Dienstpistole dabei. Aber hier bin ich nur geduldet. Die spanische Polizei hat die alleinige Zuständigkeit und operative Verantwortung. Ich darf nur beratend dabei sein. – Warum nimmt dieserverflixte Chefinspektor nicht ab? Er hat doch versprochen …
Und da meldete sich Fernández endlich.
Leo erklärte ihm auf Spanisch, wo sie sich befanden, und Fernández versprach, in spätestens einer Stunde da zu sein.
Nach dem Telefongespräch lief Leo in die Richtung, die die Frau eingeschlagen hatte. Sie war noch nicht weit gekommen, saß auf den Stufen zum Eingang eines unbewohnt aussehenden Häuschens und verschlang gierig Kuchenstücke aus einer Tüte. Leo ging in Deckung und wartete, bis sie weiterging. Er sah sie vor sich auftauchen und wieder verschwinden. Sie ging dicht an den Hausmauern entlang und wurde hin und wieder von deren Schlagschatten verschluckt. Am Dorfende bog sie in einen Trampelpfad ein, der sich in einer ausgedörrten Wiese verlor. Die Wiese endete an einer Hecke aus grau verstaubten Oleanderbüschen. Frau Kurtz tauchte in die Sträucher ein und verschwand.
Irma saß noch immer auf dem Mäuerchen unter dem Feigenbaum, als die Tür des Kramladens aufflog und eine Frau herausgerannt kam. Als sie Irma entdeckte, lief sie wutschreiend auf sie zu. Irma verstand sie nicht, aber wusste sofort, dass sie für die Diebin gehalten wurde, die soeben den Laden geplündert hatte. Ihre Erklärungen und Unschuldsbeteuerungen brachten die temperamentvolle Spanierin nur noch mehr in Rage. Die vermeintliche Unverfrorenheit, mit der Irma unter dem Feigenbaum sitzen blieb, schien sie zur Weißglut zu bringen.
Durch das Geschrei flogen nun noch mehr Haustüren auf, und bald war Irma von einer wütenden Meute von zehn Leuten und einem Dutzend Kindern umringt. Irma verstand nur eins: Man forderte von ihr, die gestohlenen Waren zu bezahlen. Aber dann schien jemandem aufzufallen, dass weit und breit nichts von den geklauten Sachen zu sehen war. Während Irma von zwei stämmigen Frauen bewacht wurde,verlegten sich die anderen Leute und die Kinder aufs Suchen, als habe irgendwer Ostereier für sie versteckt. Das Diebesgut fand sich nicht, aber der Fiat wurde entdeckt. Niemand glaubte Irma, den Schlüssel nicht zu haben. Sie fürchtete schon, einer Leibesvisitation unterzogen zu werden oder dass jemand das Auto gewaltsam öffnen würde, da tauchte ein Alter auf, der ihr wie ein rettender Engel erschien. Ein deutsch sprechender Engel!
Nachdem sie dem alten Mann die Situation, die ja auch ohne Sprachprobleme knifflig genug anmutete, erklärt hatte, gab sie ihm ihr Handy, damit er sich von Chefinspektor Fernández die
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