Lemberger Leiche
Winzer. Der Strom der trinkfreudigen Touristen hatte noch nicht eingesetzt, doch die Geschäfte waren schon geöffnet.
Sie kauften Käse und Schinken, an einem Obststand kamen Äpfel und beim Bäcker eine Tüte Brötchen dazu. Leo verlangte noch drei in Schmalz ausgebackene Hefestücke, die mit Kürbisstückchen gefüllt und mit Puderzucker überzogen waren.
»Das sind
ensaïmadas
für Line«, sagte er. »Es sind ihre Lieblingskuchen.«
Zuletzt kauften sie einen Sixpack Mineralwasser.
Als sie mit ihren Einkäufen zurück zum Auto gingen, lehnte sich Irma gegen einen Gartenzaun und murmelte: »Ich falle gleich um vor Durst.«
Sie setzten sich auf die Kirchenstufen, aßen hastig jeder ein Brötchen mit Käse und tranken die erste Flasche Wasser aus.
Dann gingen sie eilig und mit schlechtem Gewissen, weil sie so viel Zeit verloren hatten, zum Auto und fuhren los. Ihre Gedanken waren fast ständig bei Line.
»Heute müssen wir sie finden!«, sagte Leo und trat fester aufs Gas.
Als sie von der Kuppe der steilen Brücke, die die Autobahn überspannte, über die endlos scheinende Ebene blickten, sank ihre Hoffnung, Line zu finden, auf den Nullpunkt. Auf der anderen Seite der Autobahn verliefen die Straßen zwischen Oliven-, Mandel- und Weinfeldern. Es hätte eine wunderschöne Tour sein können, doch sie hatten beide den Eindruck, dass diese asphaltierten Straßen nie und nimmer zu verlassenen Fincas führten. Nach einer halben Stunde wechselten sie auf schmale, holperige Pfade, die sich durch ausgetrocknetes Ackerland schlängelten. Zwei Gehöfte, an denen sie vorüberkamen, waren verriegelt und verrammelt. Es war absolut unwahrscheinlich, dass sich jemand darin verborgen hielt.
Sie schwiegen, weil sie sich nichts zu erzählen hatten. Nur einmal, als sie an einer Windmühle, die ohne Flügel in der Landschaft stand, vorüberkamen, erzählte Leo, dass die Mühlen die eselgetriebenen Schöpfbrunnen ersetzten, mit denen früher Grundwasser hochgepumpt wurde. Dadurch sei in dieser regenarmen Ebene Landwirtschaft erst möglich gewesen. Er zeigte auf ein stattliches Anwesen, dem sie sich näherten.
»Für diesen Finca-Palast wird das Grundwasser heutzutage mit Diesel- oder Elektromotoren ans Tageslicht befördert. Für die Duschen und Schwimmbäder der Hotels und zur Bewässerung der Golfplätze. Da bleibt für die Landwirtschaft nicht genug übrig – das ist der Grund, warum die Bauern ihre Höfe verlassen.«
Es ging inzwischen auf Mittag. Über der Es Pla lag blendendes Zwielicht. Die heiße Luft zitterte über den Feldern.
Irma sagte verzagt: »Ich glaube, wir finden nicht einmal die Finca, in der Line gefangen gewesen ist. Und wahrscheinlichfinden wir auch nicht wieder zurück nach Binissalem. José fehlt als Lotse.«
»Hast recht«, knurrte Leo. »Wieso sitzen dieser José und die Polizei jetzt gemütlich irgendwo im Kühlen, und wir haspeln uns hier ab wie die Sträflinge? Was ist das für ein beschissener Job, in dem du arbeitest, Irma?«
Sie merkte, dass er wieder auf einen Tiefpunkt seiner depressiven Laune zusteuerte, und antwortete nicht.
Als sie schon alle Hoffnung, die Finca zu finden, aufgegeben hatten, sahen sie in der Ferne ein Dorf. Es lag unter der flimmernden Hitze wie eine Fata Morgana. Sie erkannten es an der einsamen verstaubten Palme, die die armseligen Häuschen zu bewachen schien. Hinter diesem Dorf musste die Finca liegen! Sie stellten den Fiat neben einer Scheune ab und gingen ins Dorf. Es war wie ausgestorben. Die wenigen Einwohner, die es geben mochte, hielten vermutlich Siesta. Auch der kleine Marktplatz lag verlassen. Die zwei Kneipen und der Kramladen waren geschlossen.
Plötzlich packte Irma Leos Arm und zog ihn hinter einen Mauervorsprung. »Die Frau, die dort die Dorfstraße herunterkommt«, wisperte Irma aufgeregt, »die mit dem Sackkleid und dem Kopftuch. Das ist sie!«
»Wer?«
»Frau Kurtz!«
Er schüttelte den Kopf. »Siehst du Gespenster, Irma? Das ist eine Einheimische. Oder vielleicht eine Muslimin. Auf Mallorca leben viele Leute aus arabischen Ländern.«
»Aber ich erkenne sie – vor allem an der Größe!«
»Hast du mir nicht erzählt, sie hätte sich zu einer Schönheit gemausert, der die Männer nachrennen?«
»Das ist drei Tage her«, flüsterte Irma schnell und atemlos. »Seitdem ist viel passiert. Mir scheint, Frau Kurtz hat ihr Aussehen noch einmal geändert. Sie ist ein Chamäleon, ich vermute, nicht nur äußerlich, sondern auch in ihrer
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