Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
Vom Netzwerk:
fest.
    «Danke, Schwester. Wohin fahren wir denn?»
    «Nicht weit weg. Nach
Walhall

     
    Das Sanatorium
Unter den Ulmen
besteht, wie der Lemming von Schwester Ines erfährt, aus fünf Gebäuden, die in einem weitläufigen, von einer hohen Mauer umgebenen Park verteilt stehen. Das ohne Zweifel eindrucksvollste ist zugleich das Zentrum der Klinik, in dem nicht nur Büros und Behandlungsräume untergebracht sind, sondern auch der Speisesaal und die Mehrzahl der Patienten. Mehr aus- als einladend thront es auf einem Hügel, der sich über den Rest des Geländes erhebt.
Walhall
wird es scherzhaft genannt, weil die Gründerin der Anstalt, Johanna von Ulmen, nicht nur Witwe eines steinreichen Industriellen, sondern auch glühende Wagner-Verehrerin gewesen sein soll. «Deutschkomponist», sagt Schwester Ines und zuckt die Achseln. «Ich habe nicht gehört, wie er klingt   …» Johanna von Ulmen hat die Ulmenstiftung gegen Ende der fünfziger Jahre ins Leben gerufen; angeblich ihres eigenen Bruders wegen, der geistig zurückgeblieben war.
    «Daher der Name», nickt der Lemming. «Ich hab mich schon gewundert; ich sehe keine Ulmen hier   …»
    «Nein, keine Ulmen», bestätigt Schwester Ines. «Nur Bäume.» Sie schiebt den Rollstuhl mit leichter Hand den blumengesäumten Weg entlang, der bald schon bergan durch ein schattiges Buchenwäldchen führt.
    «Und die anderen Häuser?»
    «Siegfried-Pavillon. Da kommen wir gerade. Sie sind dort und Herr Stillmann und drei noch andere. Ist eigentlich für Langekranke, für Bettlieger. Dann gibt es Schwesternwohnhaus, wir werden bald sehen, hinter
Walhall
. Und Kirchenkapelle von Kaiserin Sisi, sehr alt und kaputt, ganz dunkel, weit hinten schon im Wald   … Ich mag nicht   … Man geht dort nicht gerne, auch beten nicht   …»
    «Das waren erst vier», meint der Lemming, der aufmerksam mitgezählt hat.
    «Vier, ja. Fünftes ist unten bei Haupteinfahrtstor   …» Schwester Ines macht eine Pause, und kurz kommt es dem Lemming so vor, als müsse sie sich überwinden weiterzusprechen, wie jemand, dessen Gedanken ganz unerwartet in düstere Gefilde abschweifen.
    «Ist Haus von Pförtnermann und Frau», sagt sie dann. «Kleines Haus   … Das ist alles.» Sie beendet ihre virtuelle Führung und verfällt in Schweigen. Der Fuß des Hügels ist nun erreicht; der Pfad steigt in leichtem Bogen an; Schwester Ines stemmt sich gegen den Rollstuhl.
    «Schön ist es hier   …», versucht der Lemming das Gespräch wieder in Gang zu bringen, als der Weg nach einer Weile flacher wird. «Die Blumen, die Ruhe, die gute Luft   …»
    «Ja, Sie sagen vielleicht richtig. Aber manchemal   …»
    «Was manchmal?»
    «Manchemal es ist nicht immer schön   …»
    «Was meinen Sie?»
    Die Schwester bleibt stehen. Tritt an die Seite des Rollstuhls und blickt den Lemming an. Ihr Gesicht liegt im Schatten – in einem weit dunkleren Schatten, als ihn der schillernde Baldachin der Baumkronen zu werfen vermag.
    «Es gibt Geister», sagt sie mit einer zum Flüsterton gesenkten Stimme, «schlimme Geister. Manchemal sie kommen hier und machen Unglück. Setzen sich auf die Seelen, machen die Menschen böse, verrückt. Man weiß nicht   … Man weiß dann nicht, sind hohe Mauern gut oder sind nicht gut. Mauern um Ulmenklinik. Sie schützen Menschen dann nicht   … Sie sperren ein und machen Geister bleiben lange, bis vieles Böses geschieht. Dann ist kein Liebe mehr, kein Liebe, nur viel Angst. Wenn ich muss nicht Geld schicken für Familie in Philippinen, ich bin weg von
Ulmen
…»
    Sie hat es ganz ruhig gesagt, ganz langsam und leise. Jetzt greift Schwester Ines an die Kette um ihren Hals, führt dasgoldene Kreuz zum Mund und küsst es. «Ich habe nicht geredet, was ich geredet. Aber macht nichts   …», sie beugt sich vor und streicht die Decke auf dem Schoß des Lemming glatt, «macht nichts, weil Sie sowieso nicht erinnern   …»
    Voll der Gedanken, voll der Zweifel, starrt der Lemming vor sich hin, während er weiter bergan geschoben wird. Sein angeschlagener Kopf versucht, einen Weg durch das Dickicht zu finden, durch diesen Dschungel der Absurditäten und Seltsamkeiten, in dem nichts ist, wie es anfangs scheint: ein toter Körper, von einem wachen Geist bewohnt. Ein Arzt, der sich als Patient entpuppt. Eine offenbar gläubige Frau, die von Gespenstern fabuliert. Ein Wald, in dem füllige Nymphen tanzen   … Wer in dieser kleinen Welt des Wahnsinns am Rande der großen nicht irre

Weitere Kostenlose Bücher