Lemmings Himmelfahrt
wird, der muss es schon vorher gewesen sein, entscheidet der Lemming. Abgesehen davon, so grübelt er weiter, bin auch ich selbst nicht, was ich bin: scheinbar namenlos, obwohl ich meinen Namen kenne. Scheinbar von Sinnen und doch nicht verrückt. Scheinbar ein Killer, der gar nicht getötet hat. Und der wahre Mörder? Morgen werde ich wohl sein Zimmer beziehen, im Bett dieses abgängigen Geigers liegen … Oblatenstirn. Mag ja sein, dass er auch nicht der ist, für den ich ihn halte, und falls doch – dann ist er längst über alle Berge …
«Schwester? Die Zimmer in
Walhall
… Sind es schöne Zimmer?»
«Ja. Sehr gut. Alle sauber, hell und Eigenbad.»
«Ich soll nämlich … Ich soll morgen verlegt werden. In das Zimmer eines gewissen … Oblatenstirn.»
Schwester Ines’ Lachen klingt wie helle Glöckchen.
«Ah ja, der Geigespieler. Ist aber nicht sein richtiger Name, Oblatestirn …» Wieder muss Schwester Ines kichern, bevor sie weiterspricht. «Grock hat den Namen gegeben. Manchemal Grock sagt immer so Sachen …»
«Grock?»
«Ja, ist Patient Grock, Autistpatient. Sie werden bald sehen.»
«Und der andere? Dieser Oblatenstirn?»
«Er heißt Balint in Wirklichkeit. Ist auch Patient, aber fort seit gestern. Armer Mann Balint …»
«Was fehlt ihm denn?», fragt der Lemming wie beiläufig.
«Er ist, wie sagt man … Hygieniker. Er hat viel Angst vor Kranksein, viel Schmutzangst. Er muss immer waschen, immer waschen, Gesicht und Hände und alles … Und er hat immer Schuhe … Schuhe auf den Händen …»
«Handschuhe», nickt der Lemming grimmig. Die letzten Zweifel schwinden; der Mörder vom Naschmarkt ist entlarvt.
«Ja, Handschuhe. In der Woche ein Paar genau für jeden Tag. Aber das ist nicht ganz schlimm …»
«Was ist dann ganz schlimm?»
Schwester Ines seufzt. «Er glaubt, sein Frau … dass sein Frau … betrügt. Dass sie Liebe macht mit andere Mann. Vor zwei Wochen erst glaubt, ganz plötzlich, vorher nicht … Vor zwei Wochen sind Geister gekommen, haben Balint sehr böse gemacht. Viel Unglück, viel Eifersucht … Armer Mann Balint …»
Beinahe vergisst der Lemming in diesem Moment die Rolle, die er zu spielen hat. Er möchte aufspringen und jubeln, er möchte Schwester Ines ans Herz drücken und lauthals verkünden, dass der Mordfall Buchwieser hiermit geklärt ist. Zumindest das Motiv der Tat liegt nun klar auf der Hand: Vor zwei Wochen hat der Geiger Balint erkannt, dass er bei seiner Gattin nur die zweite Geige spielt. Genau zwei Wochen ist es aber auch her, dass Ferdinand Buchwieser seine Stellung
Unter den Ulmen
gekündigt hat, wahrscheinlich wegen all der Stellungen, die er neuerdings auf und unter der Frau des Musikanten einzunehmen pflegte … Jedenfalls hat Balintrotgesehen. Hinter den Mauern der Klinik gefangen, ist der arme Mann Balint, die gehörnte Oblatenstirn, bei der ersten Gelegenheit ausgebrochen und hat seinen Rivalen ins Jenseits befördert. Ein klassischer Eifersuchtsmord: So muss es gewesen sein, denkt der Lemming, so und nicht anders.
«Dabei», fügt Schwester Ines jetzt hinzu, «ist arme Frau Balint schon lang tot … drei Jahre lang. Damals ist Balintmann verrückt geworden und hier gekommen. Weil er hat Leiche nicht begraben viele Wochen, hat immer gesprochen mit Totfrau, hat immer so gemacht, wie sie noch lebt …»
Eine bedauerliche Geschichte. Bedauerlich nicht zuletzt für den Lemming: Eben erst erbaut, ist sein Gedankengebäude schon wieder in sich zusammengestürzt.
«Dann hat es auch keinen Liebhaber gegeben, keinen anderen Mann …», murmelt er mehr zu sich selbst als zu Schwester Ines.
«Doch … Na ja, nicht wirklich, aber … scheinbar hat gegeben. Ein Pflegemann von hier, Balint hat geglaubt …»
«Ein Pflegemann?» Der Lemming schöpft abermals Hoffnung. «Wie hat der geheißen, dieser Pflegemann?»
Schwester Ines antwortet nicht sofort. Stattdessen tut sie etwas, das ihr der Lemming niemals zugetraut hätte. Geräuschvoll zieht sie eine Ladung Speichel auf, beugt sich zur Seite und spuckt in hohem Bogen ins Gras.
«Buchwieser hat geheißen», sagt sie ausdruckslos.
Weit oben in den Bäumen ertönt das Krächzen einer unsichtbaren Krähe. Ein so genannter Pensionist wahrscheinlich, also einer jener altersschwachen Vögel, die den jährlichen Flug in den Norden nicht mehr wagen.
«Buchwieser …», flüstert der Lemming. Also doch. Nur: Was nützt ihm die
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