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Lena Christ - die Glueckssucherin

Lena Christ - die Glueckssucherin

Titel: Lena Christ - die Glueckssucherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunna Wendt
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das Hemd. Hier war der »schmerzhafte Rosenkranz« das begleitende Gebet. Die Mahlzeiten dienten nicht dem Genuss, sondern der reinen Nahrungsaufnahme. Es kostete Lena regelrecht Überwindung, die Speisen, wie zum Beispiel die »sogenannten Kässpatzen, eine zähe Wasserteigmasse, in der eine Menge Zwiebeln staken« – zu sich zu nehmen. Manchmal musste sie sich sogar erbrechen.
    Am nächsten Morgen wurde sie um fünf Uhr geweckt. Im großen Lehrsaal las ihnen die Präfektin die Legende einer Heiligen vor. Dann wurden den Kandidatinnen, die sich einer oder mehrerer Verfehlungen schuldig gemacht hatten, Bußübungen auferlegt, darunter stundenlanges Knien vor dem Altar. Spätestens angesichts dieser ihr wohlbekannten Strafen bereute Lena schon an ihrem zweiten Tag in Ursberg den Entschluss, Klosterfrau zu werden. Die Fluchtlinie Kloster schien sich als Sackgasse zu erweisen – ganz im Sinne der Sentenz Gilles Deleuzes: »Wer sagt uns, dass wir auf der Fluchtlinie nicht das wiederfinden, vor dem wir flohen?« Im Kloster Ursberg herrschte das gleiche Bestrafungssystem wie zu Hause in der Gastwirtschaft. Die Präfektin übernahm perfekt die Rolle der Mutter als Richterin und Vollzieherin.
    Als Lena schon drauf und dran war zu resignieren, kam es zu einer Begegnung, die alles veränderte: In einem großen Saal »saß eine junge Nonne mit gewinnendem, freundlichem Blick in den kindlichen Zügen am Flügel«. Schwester Cäcilia erteilte im Kloster Musikunterricht. Nachdem Lena ihr vorgesungen und von ihren Klavierstunden berichtet hatte, rief die Schwester aus: »Liebes Jesusle, hab Dank! Jetzt bekomm ich eine Musikkandidatin!« Damit begann für Lena eine glückliche Zeit. Mit Eifer und Disziplin absolvierte sie den Unterricht, übte fleißig, verfeinerte ihr Klavierspiel und begann, Geige zu lernen. Alles schien gut zu werden, es war wie ein Wunder. Doch bald registrierte sie, dass ihr die Zuwendung der Lehrerin den Neid der anderen Kandidatinnen einbrachte. Sie wurde schnell zum Sündenbock gemacht, durchschaute aber den Mechanismus: »Je öfter meine Lehrerin mir sagte, dass ich brauchbar und ihr fast unentbehrlich sei, desto öfter suchte man mich auf der anderen Seite durch Wort und Tat zu überzeugen, dass ich ein eingebildetes, dummes Mädel sei, das leicht zu ersetzen wäre.« Man schwärzte sie bei der Präfektin an; deren Strategie, das »eitle, schlimme Mädchen« von höchster Stelle bestrafen zu lassen, schlug allerdings fehl. Die Oberin, eine »vornehme, gütige Frau«, hielt zu Lena und glaubte ihr, dass sie sich nicht hervortun wollte, sondern einfach mit großer Begeisterung bei der Sache war.
    Das konnte Schwester Cäcilia nur bestätigen und überzeugte davon auch den Superior, der als Nächster hinzugezogen wurde. Seine pragmatische Empfehlung lautete: »Kind, wenn du wirklich brav warst, so bleib’s, wenn nicht, so werd’s!«
    Es war für Lena nicht selbstverständlich, Beistand zu erhalten. Aus übergroßer Dankbarkeit küsste sie einige Male Schwester Cäcilias Hand, bis diese ihr Einhalt gebot mit der Begründung: »Lass doch die dumme Hand! Sie gehört ja gar nimmer mir, sondern dem heiligen Josef!« Doch durch dieses Argument war Lena nicht zu stoppen. »Aber der Mund g’hört schon noch Ihnen«, vergewisserte sie sich, und bevor Schwester Cäcilia, die mit den Worten begann »Ja, zum Beten und Singen und …«, ihren Satz vollendet hatte, drückte ihr Lena einen Kuss auf die Lippen. Dann schwiegen beide, bis Lena plötzlich entdeckte, dass unter Schwester Cäcilias Schleier ein »Wusch goldroten Haars« hervorlugte. Mit dem Ausruf »Was sagst, die Welt guckt raus?« versteckte Schwester Cäcilia die vorwitzigen Locken unter ihrer Haube. Dieses Erlebnis besiegelte ihre Freundschaft. Die Ältere versuchte der Jüngeren das Klosterleben zu erleichtern. Obwohl sie sich selbst durch ihre Offenheit von den anderen Nonnen unterschied, riet sie Lena zu Diplomatie und Anpassung. Doch dieser war Scheinheiligkeit – und als solche definierte sie das von ihr geforderte Verhalten – zuwider.
    Nicht nur die Strafrituale, sondern besonders die Selbstgeißelungen, denen sich einige Nonnen unterzogen, stießen Lena ab und verstärkten ihren Eindruck, in eine Welt hineingeraten zu sein, in die sie nicht gehörte. Einzig Schwester Cäcilia schaffte ein Gegengewicht durch ihr Verständnis und ihren Humor. Als Lena sie fragte, ob sie sich auch selbst misshandle, antwortete die Schwester, sie käme nicht dazu,

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