Lena Christ - die Glueckssucherin
bestimmenden Elemente, sondern das Material, dem die Regisseurin einen Part zuwies. Peter Jerusalem versuchte, sich in ihren Seelenzustand einzufühlen: »War sie doch beständig auf der Flucht vor sich selber oder ihren Dämonen, um das große Wort zu gebrauchen. Es geht solchen Leuten nicht anders als einem Flüchtling, der durch einen finstern Wald läuft und hinter sich die Stimmen der Verfolger hört. Er sieht sie nicht, weiß nicht, woher sie kommen, und sucht darum nach einem Ausweg aus dem Dunkel.« Das Weglaufen birgt die Gefahr des Strauchelns und Stürzens. Jerusalem war sich seiner Funktion innerhalb dieser Konstellation bewusst. Er war der Auffänger, der sie vor dem drohenden Absturz bewahrte. Er war der Wegweiser, der sie vor dem Verirren rettete. »Solange ich in der Nähe war, bestand keine Gefahr. Sie konnte bei mir Zuflucht suchen oder sich in ihre Arbeit flüchten. Da kamen die guten Dämonen über sie. Zudem war sie nicht allein, sondern ging mit dem Mathias auf die Wanderschaft.«
Doch auch ganz neue Wege schlug sie ein: Bei ihrer Erzählung Die sprechende Uhr handelt es sich beispielsweise um eine Satire über technische Innovationen. Sie erschien 1913 im »Sammler«, der Beilage der München-Augsburger Abendzeitung : Eine »alte, eingesessene Münchnerin« bekommt von ihrem Neffen eine Standuhr geschenkt, über die sie sich zunächst freut, bis sie feststellt, dass die Uhr jede halbe Stunde die Zeit auf Bayerisch ansagt: »Oans, halbe zwoa, zwoa«. Offensichtlich angeregt wurde Lena Christ dazu durch die Schilderung eines »Wunders der Technik«, das von dem Berliner Erfinder Bernhard Hiller konstruiert worden war. Darüber wurde ebenfalls im »Sammler« berichtet. Das zeigt, dass sie nicht nur spontan und intuitiv arbeitete, auf ihre starken Bilder und Formulierungen vertrauend, sondern recherchierte und exzerpierte.
Bereits bei Mathias Bichler hatte sie damit begonnen. Im März 1913 legte Lena ihrem Mann ein Kontobuch vor, in das sie den Anfang eines neuen Romans geschrieben hatte: »Mathias Klamm«. Schon der erste Satz begeisterte Jerusalem. Nachdem er ihr ein Lob ausgesprochen hatte, erläuterte sie ihm ihr Konzept. Ausgangspunkt waren Erlebnisse aus ihrer Kindheit. Das Motiv des Findelkindes, das als Kostkind bei Bauern aufwächst, sollte die Handlung tragen. Und es sollte gerade dieses Kind sein, das einmal zum Herrgottschnitzer wurde. Weil sie sich nicht ausschließlich auf ihre eigenen Erinnerungen verlassen wollte und darüber hinausgehend Informationen über Kulturgeschichte und Tradition benötigte, beauftragte sie ihren Mann, sie mit entsprechenden Werken aus der Staatsbibliothek zu versorgen. Im Verlauf ihres Schreibens benannte sie Mathias Klamm um in Mathias Bichler – als Hommage an ihren geliebten Großvater, dem sie so viel zu verdanken hatte.
Mathias Bichler thematisiert die Selbstschöpfung eines Künstlers – hier ist es ein bildender Künstler, doch Parallelen zu ihrer eigenen Entwicklung zur Schriftstellerin sind unübersehbar. Das Motiv der Künikammer aus den Erinnerungen einer Überflüssigen taucht auch in diesem Roman wieder auf: »Am liebsten schlich ich mich in die Künigkammer, die beste Stube des Hauses, in der seit Menschengedenken aller Prunk und Glanz des Weidhofs angehäuft wurde«, lässt sie Mathias Bichler schwärmen. »Da wühlte ich in den Truhen und Schränken, behängte mich mit seidenen und blumendurchwirkten Tüchern, silbernen Ketten und schimmernden Flachszöpfen, setzte die alte, hohe Pelzhaube des seligen Weidhoferahnls auf und stellte mich so herausgeputzt vor den Spiegel des Glaskastens und betrachtete und beschaute mit viel Ergötzen meine Herrlichkeit. Sodann kletterte ich auf Tisch und Stuhl, nahm die alten, vergoldeten Heiligenbilder von den Wänden, lehnte sie der Reihe nach rings um die Ofenbank und begann, vor diesen auserlesenen Zuschauern die wunderlichsten Tänze und Sprünge auszuführen.«
Lena Christ beauftragte nicht nur Jerusalem, ihr Material aus der Bibliothek zu beschaffen, sondern recherchierte selbst professionell. Als sie 1913 mit ihren beiden Töchtern Glonn besuchte, teilte sie ihm anschließend mit, sie habe ein wichtiges Buch gekauft, das sie für ihre Arbeit verwenden wolle: eine kulturgeschichtliche Abhandlung mit dem Titel Glonn und Umgebung, in Vergangenheit und Gegenwart, nach Quellenforschungen , verfasst von einem Geistlichen aus Glonn. Dieser entnahm sie nicht nur Informationen über das Brauchtum,
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