Lenas Flucht
lange du willst, Kindchen«, antwortete die Tante zerstreut. Die ächzenden Männer erforderten ihre volle Aufmerksamkeit.
»He, Genossen Möbelträger, habt ihr zuwenig Brei gegessen? Ihr bekommt das Ding ja keinen Zentimeter vom Fleck!« konstatierte sie von oben herab.
»Es geht nicht, Großmutter. Das Ding ist alt und gediegen, aus massiver Eiche. Wir kommen morgen früh wieder und bringen noch ein paar Kerle mit. Dafür braucht man mindestens vier Mann, nicht weniger.«
»Was seid ihr bloß für Schlappschwänze!« meinte Soja kopfschüttelnd. »Habt in eurer Demokratie das Arbeiten ganz verlernt. Es reicht, Genossen Möbelträger, dann bis morgen«, ordnete sie an.
»Kommen Sie, ich bringe Sie hinaus.« Lena nickte den beiden zu. Im Vorzimmer nahm sie 500 Rubel aus ihrer Handtasche.
»Männer«, sagte sie leise, »morgen braucht ihr nicht wiederzukommen. Wir verkaufen den Schrank nicht.«
»Das machen Sie richtig«, lächelte der etwas Nüchternere. »So ein gutes Stück, und sie hätte es für ein paar Kopeken weggegeben. Wir wissen schon, Ihre Großmutter ist etwas …«Er ließ einen Pfiff hören und legte seinen Finger bedeutungsvoll an die Schläfe.
Als Lena wieder in die Küche kam, lutschte Tante Soja ein Sahnebonbon und las in der Zeitung »Sawtra«, wobei sie mit ihrem Rotstift wichtige Stellen unterstrich und Frage- oder Ausrufezeichen auf die Ränder setzte.
Siebentes Kapitel
Walja beschloß, sich ein wenig die Beine zu vertreten. Die letzte Oktobersonne lugte zwischen den Wolken hervor. Vor ihr lag der trübe, kalte November, der Monat, den sie am wenigsten mochte. Jetzt zeigte sich Lesnogorsk in der ganzen Eintönigkeit seiner Plattenbauten. Kein Laub verhüllte sie mehr. Alles ringsum wurde grau und hoffnungslos bis zum ersten Schnee, zum ersten frostklaren Tag des Dezember. Dann bekam das kleine Lesnogorsk und mit ihm die ganze Welt wieder Farbe. Man lebte auf und wartete auf das neue Jahr.
Vor dem Kaufhaus wurden Zeitschriften feilgeboten. Auf Tischen lagen unter Plastikfolie der »Playboy«, der »Cosmopolitan«, »Burda Moden« und andere bunte Blätter ausgebreitet. Walja strickte gern und suchte daher nach Zeitschriften mit Handarbeiten. Aber diesmal fand sie weder in »Verena« noch in »Anna« etwas, das sie interessierte.
»Schauen Sie doch mal in die ›Smart‹«, riet ihr die durchgefrorene Verkäuferin. »Hinten sind immer ein, zwei Modelle drin. Und überhaupt ist das eine interessante Zeitschrift. Mit Psychologie, Kochen und Kosmetik. Und außerdem ein paar gute Geschichten.«
Auf den letzten Seiten des Hefts fand Walja in der Tat zwei wunderbare Modelle mit einfachen, aber hübschen Mustern.
Zu Hause machte sie es sich in der Küche bei einer Tasse Tee und Keksen mit der Zeitschrift bequem. Nachdem sie Artikel über die Psyche des Mannes, über die Attraktivitätder Frau und die Suche nach dem eigenen Stil in Kleidung und Make-Up durchgeblättert hatte, vertiefte sie sich in eine Erzählung von Agatha Christie. Am Ende las sie: Aus dem Englischen von Lena Poljanskaja.
Bei dem Namen gab es Walja einen Stich. Man müßte ihr wenigstens die Sachen zurückbringen, sagte sie sich. So wie man mit ihr umgesprungen ist.
Im Impressum auf der letzten Seite fand sie die Abteilungen der Redaktion mit Namen und Telefonnummer der Verantwortlichen.
Abteilung Literatur und Kunst, Poljanskaja, Lena.
Walja ging sofort zum Telefon und wählte die Nummer der Redaktion. Nach mehreren Anläufen hatte sie die Sekretärin des Chefredakteurs in der Leitung. Als das Gespräch beendet war, zog sie sich sofort an und lief ins Krankenhaus. Bis zu Dienstbeginn blieben noch über vier Stunden, aber sie mußte die Frau in der Aufbewahrung antreffen.
Tante Manja, die dort Dienst tat, kannte Walja seit ihrer Kindheit, denn sie war mit ihrer Großmutter befreundet gewesen.
»Grüß dich, Walja, wie geht’s? Möchtest du einen Tee?« Tante Manja trank ihren Tee aus einer riesigen Porzellankanne und knabberte genüßlich Sahnebonbons dazu.
»Danke, Tante Manja, ich hab’s eilig. Eine Patientin wird entlassen, und ich soll ihre Sachen holen. Schauen Sie doch bitte nach: Poljanskaja, Lena. Hat bei uns in der Gynäkologie gelegen. Ich habe die Sachen selber hergebracht.«
Tante Manja schraubte sich ächzend in die Höhe.
»Bleiben Sie doch sitzen, ich hole sie, darf ich? Und anschließend unterschreibe ich Ihnen die Quittung«, schlug Walja vor.
»Na meinetwegen, schau selber nach,
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