Lenas Flucht
Kindchen.«
Walja fand rasch den hellen Mantel, den karierten Wollrock und den weißen Pullover aus Alpakawolle. Sie unterschrieb die Quittung und verabschiedete sich von Tante Manja. In dem leeren Schwesternzimmer im Parterre hattesie bereits eine große Sporttasche bereitgestellt. Walja verschloß die Tür von innen und packte die Tasche. Dann ging sie, als ob nichts wäre, aus dem Krankenhaus.
Am nächsten Tag, wenn sie nach dem Dienst ausgeschlafen hatte, wollte sie die Sachen in die Redaktion der Zeitschrift »Smart« bringen. Dann würde sie endlich wieder ein reines Gewissen haben.
Amalia Petrowna blätterte nachdenklich das dicke, abgeschabte Telefonbuch durch. Was für Nummern es da gab – von berühmten Künstlern, Ministern, Mitarbeitern ausländischer Botschaften, Schriftstellern, Komponisten und Regisseuren. Aber alle diese Leute interessierten Amalia Petrowna nicht. Sie suchte nach Nummern, die nur mit Vornamen bezeichnet waren. So notiert man sich nicht Geschäftspartner, sondern Menschen, die einem nahestehen.
Die Methode bot natürlich keine Garantie. Das Buch war sehr alt, und mancher, der mit Vaters-, Familiennamen und Beruf vorkam, konnte der Besitzerin inzwischen nähergekommen sein. Aber schließlich konnte sie nicht alle anrufen – es waren weit über tausend!
Allein mit Vornamen waren nur vier bezeichnet, wenn man die nicht mitzählte, die Vorwahlnummern in anderen Städten hatten oder in lateinischen Buchstaben geschrieben waren. So engte sich der Kreis erheblich ein.
Der erste war ein gewisser Andrej.
Als Amalia Petrowna gewählt hatte, nahm ein Kind ab. Mit ihrer süßesten Stimme bat sie:
»Ruf doch bitte Onkel Andrej ans Telefon.«
»Er ist nach Deutschland gefahren«, antwortete das Kind verwundert, »schon vor einem Jahr.«
»Dann hätte ich gern Tante Lena.«
»Tante Lena, Telefon!«
Amalia Petrownas Handflächen wurden feucht. Nach endlosem Warten erklang eine uralte Stimme: »Hallo, wer ist dort …?«
Die nächste Nummer gehörte einer gewissen Olga. Die war längst umgezogen und hatte keine neue Nummer hinterlassen. Dann gab es da noch eine Regina, bei der niemand abnahm. Schließlich blieb als letzter ein gewisser Juri.
Der kam selbst an den Apparat. Er hatte einen angenehmen rauchigen Bariton.
»Wer hat Ihnen diese Nummer gegeben?« wunderte er sich, als Amalia Petrowna ihm mitteilte, sie suche Lena Poljanskaja.
»Die ist mir per Zufall in die Hände gefallen«, murmelte Amalia Petrowna. »Ich bin eine alte Bekannte von Lena und muß sie dringend sprechen.«
»Da kann ich Ihnen nicht helfen«, antwortete Juri kalt. »Rufen Sie hier bitte nicht wieder an.«
Amalia Petrowna blätterte weiter nachdenklich in dem Telefonbuch herum, bis sie schließlich auf der Innenseite des Einbandes auf eine fast verblichene Notiz stieß. Vor allem fiel ihr auf, daß sie nicht Lena Poljanskaja geschrieben hatte, deren Handschrift Amalia Petrowna inzwischen genauestens kannte.
»Lena! Ruf bitte Tante Soja an. Vergiß es nicht. Sie hat am 7. Mai Geburtstag.«
Daneben ein Datum von vor zehn Jahren, eine Telefonnummer und unter dem Ganzen eine grinsende Fratze.
Diese Nummer probierte Amalia Petrowna nun aus. Eine junge Frau antwortete.
»Sei so lieb und ruf Tante Soja ans Telefon«, mümmelte Amalia Petrowna, als sei sie ihre eigene Großmutter.
»Einen Moment«, hieß es am anderen Ende, und dann: »Tante, Telefon!«
»Und wer bist du eigentlich, Kindchen?«
»Tante Sojas Nichte.«
»Bist du etwa die Lena?«
»Ja.«
Dann schnarrte eine strenge Stimme: »Ich höre.«
Amalia Petrowna legte auf.
»Unterbrochen«, zuckte Soja mit den Schultern. »Die ruft sicher gleich noch mal an.«
Aber das Telefon blieb stumm.
Sergej Krotow bestellte Lena zu acht Uhr abends ins MacDonald’s am Puschkinplatz. Dort wollte er nach der Arbeit sowieso einen Happen essen.
Nachdem sich Krotow vor einem Jahr von seiner Frau getrennt hatte, nahm er ziemlich rasch die Gewohnheiten eines Junggesellen an.
Lena Poljanskaja erkannte er nicht sofort, obwohl sie sich ziemlich genau beschrieben hatte. Er hatte eine Business-Lady in vollem Make-up und vollendeter Frisur, mit kaltem, scharfem Blick und offiziellem Lächeln erwartet. Solchen Frauen konnte man überall auf den Pressekonferenzen des Innenministeriums oder im Fernsehen begegnen. Ob jung oder alt, ob blond oder braun – sie unterschieden sich kaum voneinander.
Lena Poljanskaja war anders. Als er sie endlich in der Ecke des
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