Lenas Flucht
scherzt nicht. Sie drückt ab, und das wäre nur gerecht! Weil Sie, Doktor, ein Hundsfott sind – trotz Ihres würdigen Alters!«
»Und meine Frau, meine Kinder und Enkel tun Ihnen nicht leid?« fragte Kurotschkin in gleichmütigem Ton. Ihm war auf einmal alles gleich. Wer brauchte ihn denn schon? Einen alten, einsamen und auch noch gewissenlosen Mann. Seine Frau war seit fünf Jahren tot, und seine Tochter hatte sich noch im selben Jahr mit Mann und Kind nach Australien davongemacht. Vor kurzem war sie zu Besuch gekommen – eine fremde Vierzigjährige, die ihm einen Sack voll gebrauchter Sachen mitbrachte und ihm Farbfotos von ihrem glücklichen Leben in Australien zeigte. Mit diesem Besuch hatte sie seine Einsamkeit nur endgültig besiegelt.
»Ihre Verwandten tun mir leid«, hörte er Lenas Stimme, »aber für Sie selber kann ich kein Mitgefühl empfinden, entschuldigen Sie schon.«
»Also gut«, seufzte Kurotschkin, »ich sage Ihnen, was ich weiß. Aber nicht deshalb, weil Sie mir Angst gemacht haben. Ich bin einfach total erschöpft und will nach Hause.«
Damit belog er sie und sich selbst. Er hatte furchtbare Angst. Sein Hemd klebte am Körper, und der Pullover stachund kratzte entsetzlich durch den dünnen, feuchten Stoff. Aber das abscheulichste war diese Pistole im Nacken. Gehalten von einer festen Hand, die kein bißchen zitterte.
»Meine Auftraggeberin ist Amalia Petrowna Sotowa, die Leiterin der Gynäkologie im Krankenhaus von Lesnogorsk. Ich bekomme Geld von ihr – nach heutigen Maßstäben nicht viel, aber ich brauche es.«
»Wofür bezahlt sie Sie?« fragte Goscha.
»Unterbrechen Sie mich bitte nicht. Ich muß von Anfang an erzählen, damit Sie mich verstehen.«
»Wir hören Ihnen aufmerksam zu, Dr. Kurotschkin. Möchten Sie einen Schluck Wasser?« Goscha hielt eine Flasche Mineralwasser in der Hand.
Nachdem er gierig einen großen Schluck des leicht salzigen Getränks genommen hatte, fuhr Kurotschkin fort: »Amalia und ich haben zusammen studiert – im Ersten Medizinischen Institut. Im sechsten Semester fingen wir eine Affäre miteinander an. Sie war sehr hübsch … Das war zu Beginn der fünfziger Jahre. Zu der Zeit, als jene schreckliche Kampagne gegen die ›Mörder in weißen Kitteln‹ lief. Sicher haben Sie davon gehört. Sie können sich vorstellen, was damals in unserem Institut los war. Ein Lehrer nach dem anderen wurde verhaftet.
Zu dieser Zeit gab mir einmal ein alter Professor, ein Embryologe, bei einer Prüfung ein ›Unbefriedigend‹. Ich war ein guter Student, aber diese Zensur hatte ich verdient. Und der Professor war eine weltberühmte Kapazität. Außerdem ein guter Mensch. Er war bei den Studenten sehr beliebt, und auch ich mochte ihn. Die Prüfung mußte ich wiederholen.
Danach rief mich der Kaderchef des Instituts zu sich und fragte mich lange nach meinem Verhältnis zu dem Professor aus. Dann zwang er mich, etwas zu schreiben … Sie können sich sicher denken, was … Zwei Tage später wurde der Professor abgeholt. Mir war klar, daß sie ihn sowieso auf der Liste hatten. Aber ich machte mir Vorwürfe, quälte michund erzählte alles Amalia. Sie zeigte sich mitfühlend und erklärte: ›Dich trifft keine Schuld.‹ Doch seit der Zeit brachte sie immer wieder die Rede auf diesen Professor.
Nach dem Studium sahen wir uns nur noch selten. Aber wenn wir uns trafen, erinnerte sie mich stets an diese Geschichte. Es machte ihr Spaß, mich in Angst und Schrecken zu halten.
Vater und Mutter meiner Frau sind in Stalinschen Lagern umgekommen. Wenn sie erfahren hätte, daß ich in eine solche Sache verwickelt war, hätte sie mich sofort verlassen. Keine Chance für eine Rechtfertigung. Aber ich liebte sie sehr … Wenn Amalia später zu uns zu Besuch kam, konnte sie den ganzen Abend um dieses Thema kreisen, und ich litt Höllenqualen bei der Vorstellung, sie könnte sich verplappern.
Die Jahre sind vergangen, meine Frau ist gestorben, und ich bin ein alter Mann. Aber die Angst vor Amalia ist geblieben. Nicht unbedingt Angst, eher ein Gefühl, daß ich ihr etwas schuldig bin. Sie weiß etwas von mir, für das ich mich schrecklich schäme.
Vor drei Jahren ist Amalia wieder in mein Leben getreten. Sie sagte, sie wollte mir helfen, das Geld für ein würdiges Alter zu verdienen. Sie erklärte, sie könnte mich dafür bezahlen, daß ich ihr Frauen in der 20. bis 25. Schwangerschaftswoche schicke. Natürlich nur solche, bei denen eine Unterbrechung der Schwangerschaft angeraten
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