Lenas Flucht
Stunden lang die gleichen Shops und Boutiquen aufsuchte wie Amalia Petrowna, wo sie gelangweilt die dort angebotenen Blusen, Kleider und Mäntel betrachtete, atmete erleichtert auf. Im Café streifte Amalia Petrowna sie mit einem flüchtigen Blick und dachte dabei: Ein hübsches Mädchen. Das Gesicht kommt mir bekannt vor … Natürlich, wie auf einem Werbeplakat für Kaugummi oder Shampoo. Könnte Ausländerin sein, vielleicht eine Deutsche.
Die Blondine war keine Deutsche. Auch für Kaugummi oder Shampoo hatte sie noch nie Werbung gemacht. Sie hieß Sweta. Sie hatte ein schönes Standardgesicht, was bei ihrem Job sehr hilfreich war. Es war ein Gesicht, das man sich schwer merken konnte. Wer sie mehrmals sah, erkannte sie selten wieder.
Wie viele solcher Schönheiten es jetzt doch gibt, ging es Amalia Petrowna durch den Sinn. Als hätte man eine neue Rasse gezüchtet. Immer die gleichen Gesichter. Noch vor zwanzig Jahren sahen hübsche Mädchen anders aus. Eswaren weniger und alle verschieden. Und erst zu meiner Zeit … An ihre Jugend erinnerte sie sich gut. Ihr Name hatte sie damals sehr geärgert – Amalia. Der paßte überhaupt nicht zu ihr. Denn sie war damals … genauso eine schlanke, langbeinige Blondine wie das Mädchen am Nachbartisch …
Dmitri Kurotschkin, ein kleiner, unscheinbarer Kerl, war wahnsinnig in sie verliebt gewesen. Und nicht nur er. Aber er gab ihr einen sehr schönen Namen – Li. Wahrscheinlich war er auch der einzige, der sie wirklich liebte. Die kurze Studentenaffäre mit ihm war die rührendste Erinnerung an ihre Jugendzeit geblieben.
Mit Dmitri Kurotschkin wollte Amalia Petrowna den heutigen Abend verbringen, einfach mit ihm in einem gemütlichen georgischen Restaurant sitzen und einmal nicht an geschäftliche Dinge denken. Denn Dmitri war der einzige Mensch, mit dem sie nicht nur Geschäftsbeziehungen, sondern auch gemeinsame Erinnerungen verbanden.
Als sie ihn heute aus dem Schönheitssalon angerufen hatte, hörte er sich merkwürdig an. Er sagte, er sei müde und fühle sich nicht gut. Aber ihr einen Korb zu geben, wagte er dann doch nicht.
Zwölftes Kapitel
In die Schule von Kunzewo gelangte Sweta Kowaljowa an einem Tiefpunkt ihres Lebens. Sie hatte gerade das Pädagogische Institut absolviert. Als einzige Aussicht winkte ihr, Sportlehrerin an einer Schule zu werden.
Bei ihrem Aussehen hätte Sweta sofort eine Anstellung in irgendeiner Firma gefunden. Wenn sie sich jedoch auf Annoncen meldete, wo eine Sekretärin gesucht wurde, gab man ihr fast überall deutlich zu verstehen, daß sie ihrem Chef auch über das rein Berufliche hinaus zu Diensten zu sein hätte. Das aber wollte sie nicht.
Einige Monate verbrachte sie so ohne Arbeit und fastohne Geld. Ihre Mutter, mit der sie sich die Einzimmerwohnung teilte, sah sie fast nur noch betrunken. All das löste bei Sweta eine schwere Depression aus.
Als sie sich wegen einer Nichtigkeit auch noch mit ihrem Freund zerstritten hatte, warf sie die Tür zu und ging. Der Weg zur nächsten Metro-Station führte durch einen Park. Dort zerrten sie drei Unholde ins Gebüsch, stopften ihr einen schmutzigen Lappen in den Mund, fesselten sie, vergewaltigen sie lange und schmerzhaft, zogen sie dann bis auf die Unterwäsche aus, rammten ihr dreimal ein Messer in den Bauch und ließen sie einfach liegen – nackt, gefesselt, geknebelt und mit drei blutenden Wunden. Als sie weg waren, reichte Swetas Kraft gerade noch aus, um bis zu einer Allee zu kriechen, wo Menschen sie finden konnten. Dann verlor sie das Bewußtsein. Erst auf der Intensivstation eines Krankenhauses kam sie wieder zu sich.
Man sagte ihr, es grenze an ein Wunder, daß sie noch lebte. Die drei Messerstiche hatten rein zufällig kein wichtiges Organ getroffen. Kinder würde sie allerdings nie haben können.
Als Sweta wieder aufstehen konnte, rief sie ihren Turntrainer an, den sie kannte, seit sie acht Jahre alt war.
»Ich will schießen und kämpfen lernen, damit mir so etwas nie wieder passiert«, erklärte sie, als der Trainer mit Blumen und Obst im Krankenhaus erschien.
»Ich werde mein Bestes tun, aber versprechen kann ich nichts«, antwortete der Trainer.
Am Tag nach der Entlassung aus dem Krankenhaus klingelte bei Sweta das Telefon. Die Schule, in die sie nach vielen komplizierten Tests und Untersuchungen kam, hatte keinen Namen und stand in keinem Telefonbuch. Sie gehörte dem Sicherheitsdienst der Russischen Föderation FSB.
In einem Waldstück am Rande von Moskau
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