Lenas Flucht
sie.«
»Poljanskaja? Ach, die … Natürlich.«
»Und wo ist sie jetzt?«
»Wo? Wahrscheinlich noch bei uns im Krankenhaus. Warum fragst du?«
Endlich entschloß sich Kurotschkin, ihr offen in die Augen zu sehen. Aber beim flackernden Licht der Kerze entglitt sie seinem Blick.
»Sag mir ehrlich, Amalia: Hast du keine Angst?«
»Was ist nur heute mit dir los, Dmitri?« fragte Amalia Petrowna lächelnd. »Wovor soll ich Angst haben? Bei uns geht alles mit rechten Dingen zu, das weißt du doch.«
»Nein. Vom Recht will ich hier nicht reden. Wir sind beide nicht mehr jung. Bald werden wir uns verantworten müssen. Nicht hier, sondern dort.«
»Wir müssen uns vor niemandem verantworten, Dmitri. Dort« – sie hob den Blick bedeutungsvoll zur Decke – »ist nichts. Ich bin Atheistin, wie du weißt.«
»Ich nicht«, bekannte Kurotschkin. »Je älter ich werde, desto mehr Angst bekomme ich.«
Er goß sich ein volles Glas Kognak aus der Karaffe ein und stürzte es auf einen Zug hinunter.
»Gut. Du bist Atheistin. Aber tun sie dir nicht manchmal leid?«
»Wer – sie?«
»Das weißt du ganz genau. Die Frauen, die Kinder …«
»Du solltest nichts mehr trinken, Dmitri.« Amalia Petrowna lehnte sich zurück und maß ihr Gegenüber mit einem eisigen Blick. »Das war mir schon im Institut klar. Gleich kommen dir die Tränen. Du wirst noch mal drin ersaufen.«
»Warum lügst du mich an, Amalia?« fragte Kurotschkin, und sein Blick wirkte sehr nüchtern. »Die Poljanskaja ist euch in jener Nacht entwischt. Sie hat ihr Kind gerettet. Und ich alter Esel werde deswegen ruhiger sterben.«
»Woher weißt du das?« fragte Amalia Petrowna scharf. »War sie bei dir? Hast du mit ihr gesprochen?«
Kurotschkin stand auf, zückte seine Brieftasche und warf ein paar Geldscheine auf den Tisch. »Ruf mich nie wieder an!« Damit schritt er zum Ausgang.
Sweta und Kostja sahen dem Alten nach. Mit einer raschen Bewegung stopfte Amalia Petrowna die Banknoten in ihre Handtasche.
»Ich muß Sie dringend sprechen.« Amalia Petrownas Stimme klang ruhig, aber Weiß spürte sofort, daß wieder etwas passiert war.
Der Münzfernsprecher hing vor den Türen zu den Toiletten. Die große Blondine, die am Nachbartisch gesessen hatte, kam aus der Damentoilette und blieb stehen. Sie wühlte lange in ihrer Tasche, offenbar suchte sie einen Chip. Amalia Petrowna bemerkte sie gar nicht.
»Woher rufen Sie an?« fragte Weiß.
»Kennen Sie das kleine georgische Restaurant am Miusski-Platz?«
»Ja. Ich bin in zwanzig Minuten da. Bleiben Sie, wo Sie sind.«
Der Kellner wunderte sich gar nicht, als anstelle des Professors mit dem Bärtchen am Tisch der älteren Dame ein ergrauter Schönling von etwa fünfzig Jahren auftauchte.
Amalia Petrowna gab das Gespräch mit Kurotschkin in allen Einzelheiten wieder.
»Wir müssen diese Frau stoppen! Die läßt nicht locker.« Amalia Petrowna ließ sich Feuer geben. »Wegen ihr haben wir schon drei Männer verloren. Und jetzt den vierten, meinen besten Lieferanten.«
Weiß hüllte sich in Schweigen.
Der junge Geschäftsmann am Nachbartisch zückte sein Handy und reichte es seiner Begleiterin, die eine Nummer wählte und dann rasch und leise ein paar Worte sprach. Wäre Amalia Petrowna aufmerksamer gewesen, hätte sie sich jetzt wundern müssen. Warum hatte die Blondine wohl so lange nach einem Chip für den Automaten gesucht, wenn ihr Begleiter ein Handy bei sich trug? Aber Amalia Petrowna war so von ihren Problemen in Anspruch genommen, daß sie die Welt um sich herum vergaß.
Fünfzehn Minuten später fuhr ein neuer roter Moskwitsch vor dem Restaurant vor.
Als Amalia Petrowna um die Rechnung bat, hatten Sweta und ihr Begleiter bereits gezahlt. Ihr klappriger Lada folgte dem silberfarbenen Toyota Amalia Petrownas. Eine halbe Stunde später verließ auch Weiß das Restaurant, nachdem er sich ordentlich gestärkt hatte. Die Spur seines schwarzen BMW nahm der rote Moskwitsch auf.
Auf dem Weg nach Hause mußte Weiß an Lena Poljanskaja denken. Diese Frau nötigte ihm trotz allem Respekt und sogar Sympathie ab. Aber Amalia Petrowna hatte recht. Sie mußte aus dem Weg geräumt werden. Ebenso Kurotschkin. Mit ihm war es einfacher: Er war ein alter einsamer Mann.
Die Poljanskaja aber erwies sich als harte Nuß. Wegen ihr hatten sich drei seiner besten Leute totgefahren, und der Krankenwagen war auch zum Teufel. Einen neuen aufzutreiben war gar nicht so einfach. Nun mußte er vor dem Hexer, einem der
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