Lenas Flucht
vor.
»Erzählen Sie ganz ausführlich, was Sie gestern morgen getan haben«, bat er.
Lena begann zu berichten und bemühte sich, nichts wegzulassen.
»Wie hat sich der Hund verhalten, als Sie in die Wohnung zurückkamen?«
»Das habe ich doch tatsächlich zu erzählen vergessen!« Lena erschrak. »Pinja benahm sich ganz merkwürdig: Er fletschte die Zähne, heulte, lief durch die Zimmer, wie von Panik erfaßt. Ich bin dann zur Arbeit gefahren. Als ich abends wiederkam, hatte er sich beruhigt, wirkte aber sehr niedergeschlagen …«
»Warum sind Sie gestern so spät nach Hause gekommen?« fragte Krotow und spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß. Jetzt drehst du vollkommen durch, dachte er. Du sollst einen Fall aufklären, aber du bist eifersüchtig und fürchtest, sie könnte sagen: Ich habe den Abend mit jemandem verbracht, der mir sehr nahesteht …
Lena legte drei Kassetten und ein doppelt gefaltetes Blatt Papier auf den Tisch. Als er einen Blick auf den Bogen warf, bekam er erstaunte Augen.
»Das ist ein Gruß aus Lesnogorsk«, erläuterte Lena ruhig. »Ich habe ihn auf dem Schreibtisch in meiner Wohnung gefunden. Als ich am Donnerstag von dort fortging, habe ich innen und außen eine kleine Ampulle mit Jod unter den Vorlegern versteckt. Beide waren zertreten. Die Flecken waren inzwischen eingetrocknet, aber der Geruch war noch da.«
Krotow notierte bei sich, daß er unbedingt die Spurensicherung in Lenas Wohnung schicken mußte. Bevor er sich den Kassetten zuwandte, fragte er: »Wie alt ist Ihre Tante?«
»Achtundsechzig.«
»Können Sie sie beschreiben?«
»Ich kann Ihnen Fotos zeigen«, meinte Lena. »Die neusten sind allerdings auch schon zehn Jahre alt.«
»Fotos brauche ich noch nicht, sagen Sie mir einfach – war sie groß oder eher klein?«
»Groß, einsfünfundsiebzig. Kräftig, die Haare ganz grau und kurz geschnitten, graugrüne Augen …«
Augen und Haare gibt es nicht mehr, dachte Krotow bedrückt. Laut sagte er: »Lena, der Krankenwagen mit der Nummer 7440 MJ ist gestern nachmittag in einen Tankwagen gerast. Alle Insassen waren sofort tot. Aber außer drei Männern war darin auch eine Frau von sechzig bis fünfundsechzig Jahren, ungefähr einen Meter fünfundsiebzig groß und von kräftiger Gestalt. Sie war allerdings schon eine Stunde vor dem Unfall an einem Herzinfarkt verstorben.«
»Muß ich Tante Soja jetzt identifizieren?« fragte Lena leise.
Krotow erschrak, denn alle Farbe war ihr aus dem Gesicht gewichen, selbst die Lippen wirkten bleich. Aber ihre Stimme klang beherrscht.
»Nein. Das müssen Sie nicht. Es hat eine mächtige Explosion gegeben … Die Gerichtsmedizin kann die Person auch nach den Fotos identifizieren. Dafür wird sie allerdings einige Zeit brauchen.«
Er strich ihr leicht über die Hand. »Vielleicht war es ja auch ein Zufall. Bisher ist alles noch unklar …«
Er spürte, wie sie sich quälte. Wenn sie doch nur weinen würde, dachte er, dann wäre ihr bestimmt leichter.
Aber sie brach nicht in Tränen aus, sondern erklärte mit fester Stimme: »Nein, Sergej, das ist schon alles klar. Sie sind am Freitagmorgen gekommen und in die Wohnung eingedrungen. Die Tante hatte die Möbelträger erwartet, weil sie das Büfett verkaufen wollte. Daher hat sie sich nicht gewundert. Sie haben gefragt, wo ich bin, und sie hat es ihnen nicht gesagt. Dann wollten sie sie dazu zwingen. Von dem Schreck erlitt sie einen Herzinfarkt, das kann in diesem Alter schnell passieren. Sie sind in Panik geraten und haben sie mitgenommen …«
Sergej wagte Lena kaum anzusehen. Er bedauerte bereits, daß er ihr von dem Unfall berichtet hatte. Aber wenn sie recht hatte, und es sah ganz danach aus, dann mußte sie den Tod ihrer Tante ohnehin irgendwann erfahren.
»Haben Sie außer Ihrer Tante noch weitere Verwandte?« fragte er und nahm ihre Hand. Sie war eiskalt und ließ sich nicht erwärmen.
»Sie war die einzige. Meine Mutter ist am Elbrus abgestürzt, als ich zwei Jahre alt war. Mein Vater ist vor drei Jahren an Krebs gestorben. Außer Tante Soja hatte ich niemanden mehr.«
Krotow zündete das Gas unter dem erkalteten Teekessel wieder an und legte die erste Kassette in Lenas Diktiergerät.
»Vielleicht versuchen Sie ein wenig zu schlafen?« fragte er leise, bevor er das Gerät einschaltete.
Lena schüttelte den Kopf.
»Nein, Sergej, ich möchte lieber hier bei Ihnen bleiben.«
Während sie das Gespräch mit Walja Schtscherbakowa abhörten, kochte das Wasser. Krotow
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