Lenas Flucht
erhob sich schweigend, holte zwei Tassen aus dem Büfett, brühte Lena und sich Tee auf.
Als Walja geendet hatte, wechselte Lena die Kassette. Nun erklang Dr. Kurotschkins Stimme. Krotow, der bisher schweigend zugehört hatte, drückte plötzlich die Stoptaste.
»Woher hat Goscha Galizyn eine Pistole?« fragte er erregt.
»Es ist nur eine Gaspistole.« Lena lächelte schwach. »Und sie war nicht mal geladen.«
Krotow beruhigte sich wieder und hörte weiter.
Morgen früh muß ich sofort diesen Kurotschkin aufsuchen, dachte er. Der Doktor mußte wenigstens einen Teil seines Geständnisses wiederholen, damit ein offizielles Protokoll aufgesetzt werden konnte. Zwar hatte er nicht viel Hoffnung auf Erfolg, aber die Chance durfte er sich nicht entgehen lassen.
Als sie alle Kassetten abgehört hatten, war es bereits tiefe Nacht.
»Lena, Sie brauchen etwas Schlaf«, beharrte Krotow.
»Ich werde jetzt sowieso keine Ruhe finden. Lassen Sie uns lieber noch ein bißchen reden.«
»Na schön. Aber nur, wenn wir das Thema wechseln«, gab Krotow lächelnd zurück.
»Einverstanden.«
Ob das Thema nun neutral genug war oder nicht, jedenfalls fragte Sergej vorsichtig: »Waren Sie schon einmal verheiratet?«
»Zweimal. Zum ersten Mal in der Studentenzeit. Wir blieben kaum einen Monat zusammen. Das zweite Mal war es ernster. Mein zweiter Mann ist auch der Vater meines Kindes, obwohl wir uns schon vor acht Jahren getrennt haben. Aber dieses Jahr sind wir uns zufällig wieder begegnet – in Kanada, in einer kleinen Eskimosiedlung jenseits des Polarkreises. Es war Juni, dort lag der Schnee noch kniehoch, und wir beide waren die einzigen Russen weit und breit. Wir trafen uns auf einer Konferenz zum Thema ›Die Frau und der Pol‹. Dort kamen Leute, die nichts Besseres zu tun hatten, aus verschiedenen Ländern zusammen und redeten zehn Tage lang mit wichtiger Miene über dies und das.
Ich habe mal Erzählungen von zwei Schriftstellerinnen, kanadischen Eskimofrauen, übersetzt. Und er hat irgendwann ein Buch über die kleinen Völker des Nordens geschrieben. Deshalb hatte man uns eingeladen. Unsere Hotelzimmer lagen nebeneinander.
Dort sind wir noch einmal in unsere Vergangenheit eingetaucht, aber in Moskau war es dann schnell wieder vorbei. Er weiß gar nicht, daß ich ein Kind von ihm erwarte. Er hat gerade wieder eine Familie, die zehnte, wenn ich nicht irre. Wir sind uns vollkommen fremd.«
Erst gegen Morgen legten sie sich schlafen. Krotow zog sich auf die Liege im Arbeitszimmer des Onkels zurück, undLena schlief in dem Zimmerchen, das ihr seit Kindertagen gehörte. Dort saßen auf einem abgeschabten Sessel noch immer ihre alten Spielgefährten – ein einäugiger Plüschaffe und eine riesige zerschlissene Puppe mit kahlem Gummikopf.
Vierzehntes Kapitel
Anfang der siebziger Jahre schrieb Juri Bubenzow, der seinen Armeedienst abgeleistet hatte und ins heimatliche Tjumen zurückgekehrt war, eine Erzählung über den Soldatenalltag. Darin log er, daß sich die Balken bogen, lobte die Armee in den höchsten Tönen, erzählte von freudiger Tapferkeit und Kameradschaft, von weisen, gütigen Feldwebeln und naiven Rekruten voller romantischem Enthusiasmus. In seinem Werk sangen sie einträchtig ihre Soldatenlieder, blitzten blank gewienerte Stiefel und herrschte sterile ideologische Klarheit.
Bubenzow bestand die Aufnahmeprüfung am Literaturinstitut mit Bravour. Seine Erzählung erschien in der Literaturzeitschrift für die Jugend und bald auch als Buch.
Juri zog aus, die Hauptstadt zu erobern. Da zeigte sich, daß die hochmütigen, launischen Moskauerinnen vor der groben Männlichkeit des hochgewachsenen, breitschultrigen Sibiriers nur so dahinschmolzen. Nicht alle, aber viele.
Im heruntergekommenen Wohnheim des Instituts blieb er kaum ein Jahr. Dann war er mit der Tochter eines Sekretärs des Schriftstellerverbandes verheiratet, die er im Institut kennengelernt hatte. Damit erhielt er den Zuzug für Moskau und wechselte mit seiner jungen Frau bald in eine hübsche Zweizimmerwohnung in einem von Schriftstellern bewohnten Haus, die der berühmte Schwiegervater ihnen verschafft hatte.
Die Sekretärstochter, eine häßliche Heulsuse, war unsterblich in ihn verliebt, was er bald als lästig empfand. Ihm schien, er habe für Wohnung und Zuzug, die anderen perGeburt umsonst zufielen, einen zu hohen Preis bezahlt. Diese tiefe Ungerechtigkeit sollte noch lange an ihm nagen.
Im vierten Studienjahr trat Bubenzow in die
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