Lenas Flucht
könnte Komplikationen geben. Wir wollen lieber auf Nummer sicher gehen, nicht wahr?« Sie lächelte wieder freundlich.
Walja nahm die Flasche vorsichtig entgegen.
»Wenn Sie fertig sind, können Sie sich ein bißchen hinlegen. Ich werde wachen und den Tropf auch später selbst abnehmen. Einverstanden?«
»Danke, Amalia Petrowna.« Walja schlug die Augen nieder.
»Sie sind ein gutes Mädchen«, Amalia tätschelte ihr leicht die Wange, »ganz anders als die meisten jungen Leute. So still und bescheiden. Das werde ich Ihrem Institut schreiben.«
Walja wollte fragen, was in der Flasche sei, traute sich aber nicht.
In dem kleinen Zimmer war es dunkel. Walja schaltete das Licht ein. Als die Leuchtstoffröhren aufflammten, sah sie, wie die Patientin zusammenzuckte.
»Entschuldigen Sie, Lida Wsewolodowna. Ich soll Sie an den Tropf legen.«
»Ich habe nicht geschlafen.« Lida setzte sich ruckartig auf. »Ich muß meinen Mann anrufen.«
Von dem Münztelefon, das für die Patienten auf dem Korridor hing, konnte man nur Ortsgespräche führen.
»Kommen Sie, wir gehen ins Schwesternzimmer. Von dort können Sie nach Moskau telefonieren.«
Das war streng verboten, aber Walja wußte, daß im Schwesternzimmer niemand war. Außerdem – zu Hause anrufen mußte jeder mal.
»Georgi, ich bin’s!«
Walja setzte sich in die entfernteste Ecke des Zimmers, um sie nicht zu stören. Vor die Tür gehen wollte sie nicht. Wenn jemand die Patientin im Schwesternzimmer fand, gab es Ärger. Walja wollte die Sache auf sich nehmen. Das konnte unangenehm werden. Aber es war ihr gleich.
»Georgi, hol mich hier raus, so schnell du kannst. Auf unsere Verantwortung. Sie müssen mich entlassen. Am besten, du bringst Sergej mit. Was? Ihr wart schon beide hier? Und was hat er gesagt?« Lida wurde unwillkürlich lauter. »Das kann nicht sein!« Dann aber sprach sie ganz leise und hielt sogar die Hand vor die Muschel, doch Walja konnte jedes Wort verstehen. »Ich habe Angst. Das war keine Fehlgeburt. Sie haben mich an den Tropf gehängt, und dann fingen die Wehen an. Das Kindchen hat noch gelebt, ich habe es gesehen. Sie haben es weggeschleppt. Nein, ein Mädchen. Nein, das habe ich nicht gesehen. Das hat die Frau gesagt, die mich entbunden hat …«
Die Tür sprang auf, und auf der Schwelle stand Amalia Petrowna.
»Was geht hier vor?«
»Entschuldigen Sie, Amalia Petrowna, die Patientin mußte dringend anrufen, sie ist doch aus Moskau …«
»Legen Sie sofort den Hörer auf!« befahl Amalia Petrowna, ohne jemanden anzusehen.
»Das war’s, Georgi, ich kann nicht weitersprechen.« Walja bemerkte, daß Lida beim Auftauchen Amalia Petrownas leichenblaß wurde.
»Tun Sie das nicht noch mal«, sagte Amalia Petrowna schon wieder in ruhigem Ton. »Es ist verboten, daß Patienten einen Dienstapparat benutzen. Gehen Sie an Ihre Arbeit. Und vergessen Sie nicht, worum ich Sie gebeten habe.«
»Hat sie angeordnet, mich an den Tropf zu legen?« fragte Lida, als sie wieder im Zimmer waren.
Walja nickte.
»Ich bitte Sie sehr, tun Sie das nicht. Ich habe Angst vor ihr. Hat sie gesagt, was da drin ist?«
»Nein. Aber ich habe sie auch nicht gefragt. Sie ist hier die Chefin, und ich muß ausführen, was sie anordnet.«
Im Zimmer war es sehr hell. Als Walja sich die Flasche, die sie bereits am Stativ befestigt hatte, genauer ansah, bemerkte sie die weißen Flocken am Boden. Sie überlegte einen Moment und sagte dann:
»Also gut: Ich wechsle die Flasche aus und gebe Ihnen ein völlig harmloses Stärkungsmittel. Und die hier lege ich beiseite. Wenn Sie wollen, nehme ich sie mit in mein Institut und lasse dort im Labor untersuchen, was drin ist.«
»Das sollen sie besser an der Petrowka machen. Mein Mann hat einen Schulkameraden, der ist Oberstleutnant bei der Kriminalpolizei.«
Als Amalia Petrowna ins Krankenzimmer trat, lag die Patientin Gluschko am Tropf und dämmerte vor sich hin. Die Flasche war fast leer, nur der Boden war noch bedeckt. Das reicht, dachte Amalia Petrowna bei sich. Und wenn sie morgen entlassen werden will, dann – mit Gott!
»Nun, wie fühlen wir uns?« fragte Amalia Petrowna mit einem süßen Lächeln.
»Danke, normal«, antwortete die Patientin.
»Sie wollen nach Hause?«
»Klar will ich nach Hause. Schließlich habe ich drei Kinder. Und überhaupt: Warum liege ich hier allein in diesem Zimmer?«
Der Ton der Patientin gefiel Amalia Petrowna nicht. Sie konnte gar nicht sagen, warum, aber dann ging es ihr auf: Er
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