Lenas Flucht
die Wohnung gekommen war und ihm einen Genickschuß verpaßt hatte. Wer immer das war, Krotow wollte sich bei ihm überschwenglich bedanken. Jedoch anzunehmen, ein stiller Verehrer, den selbst Lena nicht kannte, hätte den finsteren Plan des eifersüchtigen Bubenzow vorausgesehen, wäre ihm gefolgt, hätte ihn sogar in die Wohnung eindringen lassen und erst im allerletzten Moment erschossen – das war etwas zuviel des Guten.
Allerdings konnte sich Krotow auch nur schwer vorstellen, daß ein früherer Ehemann, und sei er ein Lump und Schürzenjäger, es fertigbrachte, sich als Auftragskiller gegenseine frühere Frau anheuern zu lassen. Es sei denn, es ging um seinen eigenen Kopf …
Am Ende brachte Krotow die völlig erschöpfte Lena in seine Wohnung. Er entschied, daß sie für die drei Tage, die ihr noch bis zum Abflug nach New York blieben, bei ihm besser aufgehoben war. Sie hatte nichts dagegen, war ihm für sein Angebot sogar dankbar. Pinja nahmen sie mit.
Sechzehntes Kapitel
Am Sonntagmorgen erschien Amalia Petrowna im Krankenhaus, um in ihrer Abteilung nach dem Rechten zu sehen.
»Die Patientin mit der Fehlgeburt macht Ärger«, meldete die diensthabende Ärztin. »Sie verlangt, daß sie sofort entlassen wird, und will unser Krankenhaus verklagen. Gluschko heißt sie.«
»Ich sehe mal nach ihr«, beruhigte sie Amalia Petrowna.
Als sie in das Krankenzimmer trat, lag Lida Gluschko völlig regungslos auf dem Rücken und starrte an die Decke.
»Guten Tag, Lida! Wie fühlen Sie sich?« Die Ärztin nahm sich einen Stuhl und setzte sich ans Bett.
»Was habt ihr mit meinem Kind gemacht?«
»Beruhigen Sie sich. Ich kann verstehen, wie Ihnen jetzt ums Herz ist. Aber was geschehen ist, ist geschehen. Quälen Sie sich nicht so.«
»Es ist nicht von selbst gekommen. Das haben Sie gemacht!«
»Wir? Wir sollen Ihre Fehlgeburt verursacht haben? Was reden Sie da, Lida? Schämen Sie sich nicht?«
»Sie haben mir etwas gegeben, wovon die Wehen begonnen haben. Sie haben mein Kind für irgend etwas gebraucht!«
»Wir haben Ihnen das Leben gerettet. Sie haben doch drei Kinder, denken Sie jetzt vor allem an sie. Sie hatten Glück,daß es hier im Krankenhaus passiert ist.« Amalia Petrowna spürte, wie sie die Beherrschung verlor, hielt aber an sich.
»Ich zeige Sie an«, erklärte Lida Gluschko ruhig und gefaßt.
Es war diese ruhige Entschlossenheit, die Amalia Petrowna so beunruhigte.
Wenn zu der Poljanskaja jetzt auch noch die Gluschko kommt … Wir müssen etwas tun! dachte sie bei sich. Laut aber sagte sie: »Ich muß leider wieder gehen. Ruhen Sie sich aus. Sie werden bald entlassen. Und regen Sie sich nicht so auf. In Ihrem Zustand kann das ernste Folgen haben.«
Sie eilte in ihr Labor und schloß die Tür hinter sich ab. Aus dem Kühlschrank nahm sie ein Glas, das mit einer durchsichtigen, farblosen Flüssigkeit gefüllt war. Über dem Boden schwebten ein paar flockige Ablagerungen.
Das hat noch niemand versucht, dachte sie, und schüttelte das Glas leicht. Niemand ist je auf die Idee gekommen … Nur nicht jetzt, besser heute abend.
Gegen zehn Uhr abends fiel Walja auf, daß die Stahltür des Labors halboffen stand. Sie schwankte: Sollte sie bleiben, um zu sehen, wer dort herauskam? Oder einfach hingehen und anklopfen? Unter einem Vorwand einen Blick riskieren …
Während sie noch überlegte, öffnete sich die Tür, und Amalia Petrowna kam heraus. In der Hand hielt sie eine Tropfflasche mit einer klaren Flüssigkeit. Walja wandte sich ohne Eile um und ging den Korridor entlang. Amalia Petrowna rief ihr nach:
»Hallo, warten Sie!«
Ihre Stimme war ruhig und freundlich.
»Ich vergesse immer wieder, wie Sie heißen. Sie sind doch Praktikantin bei uns, nicht wahr?«
»Ich heiße Walja, Walja Schtscherbakowa. Ja, ich bin zum Praktikum hier.«
»Ist der Nachtdienst nicht sehr anstrengend?«
»Ja«, bekannte Walja, »man wird schnell schläfrig.«
»Ein Nickerchen ist schon mal erlaubt, wenn es nichts Dringendes zu tun gibt.« Amalia Petrowna lächelte verständnisvoll und zwinkerte ihr sogar zu. »Mir ging es in Ihrem Alter genauso. Aber je älter man wird, desto weniger schläft man.«
Wie nett sie doch sein kann, ging es Walja durch den Kopf. Was sie wohl von mir will?
»Ich möchte Sie um etwas bitten, Walja«, sagte Amalia Petrowna, als ob sie Gedanken lesen könnte. »Legen Sie der Patientin Gluschko in Nr. 15 bitte diese Infusion. Sie hatte eine Fehlgeburt, fühlt sich nicht gut, und es
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