Lenas Flucht
nicht, wie die Zeit verging. Gegen Mitternacht bekam sie gerade noch die letzte Bahn. In Lesnogorsk stieg sie allein aus. Auf dem ganzen Bahnsteig keine Menschenseele. Das trübe Licht der Laternen wirkte unheimlich. Sie nahm ein kleines Gasspray aus der Tasche und steckte es in ihre Jacke.
Der kürzeste Weg nach Hause führte durch den kleinen Park. Sie konnte natürlich auch die beleuchteten Straßen nehmen, aber das hätte einen großen Umweg bedeutet. Und sie war so müde, daß sie fast im Gehen einschlief.
Einen Moment glaubte sie einen langen Schatten hinter sich zu sehen. Walja ging schneller, lief fast auf den Park zu. Mehrmals hörte sie deutlich Schritte hinter sich und drehte sich um. Aber die Straße war leer.
Im Park konnte sie kaum die Hand vor Augen sehen. Unter ihren Füßen knirschte die gefrorene Nässe. Dadurch waren Schritte besser zu hören – nicht nur die eigenen, sondern eindeutig die einer weiteren Person.
Jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Jemand folgte ihr bereits seit dem Bahnhof. Sie lief, so schnell sie konnte. Auch hinter ihr stampfte es jetzt laut. Die Schritte kamen immer näher. Walja konnte schon ein schweres, abgehacktes Schnaufen hören …
Nachdem Amalia Petrowna zwei Tabletten eines milden englischen Schlafmittels genommen hatte, schaltete sie den Sender »Orpheus« ein, der leise klassische Musik spielte. Dann legte sie sich ins Bett und löschte das Licht.
Sie schlief so fest, daß sie nicht hörte, wie das komplizierte Schloß ihrer Stahltür geöffnet wurde und zwei Männer in ihr Schlafzimmer schlichen. Sie erwachte nicht einmal, als sie das Nachtlämpchen einschalteten.
Erst als man ihr den Mund fest mit Klebeband verschloß, schlug Amalia Petrowna die Augen auf. Sie zappelte und strampelte, aber eiserne Fäuste in Gummihandschuhen hielten ihr die Arme fest. Auf ihr Gesicht senkte sich ein kleines Kissen. Sie konnte mit Mühe atmen, sah aber nichts.
Dann spürte sie, wie ihr jemand die Armbeuge mit Spiritus einrieb. Eine Sekunde später drang die Nadel einer Spritze in die Vene ein.
»Ob es reicht?« fragte der eine Mann zweifelnd.
»Klar. Fünf Gramm sind genug«, antwortete der zweite und drückte die Finger der rechten Hand Amalia Petrownas zunächst auf die Spritze und danach auf die erbrochenen Ampullen.
Einer der Männer hob ihr Augenlid an. Die Pupille in der blaßblauen Iris hatte sich bis auf einen kleinen schwarzen Punkt zusammengezogen. Der Puls war kaum noch zu spüren. Der Mann befreite ihren Mund vorsichtig von dem Klebeband. Sein Partner schaute sich auf der Frisierkommode um, fand eine Kamillencreme gegen Hautreizungen und rieb die gerötete Partie um ihre Lippen damit ein.
»Koma«, sagte der leise, der ihr die Spritze gegeben hatte. »Abmarsch.«
Die beiden jungen Männer sahen sich noch einmal aufmerksam in dem Schlafzimmer um. Das Lämpchen ließen sie brennen und auch das Radio eingeschaltet, aus dem leise alte Lautenmusik erklang. Dann entfernten sie sich lautlos und zogen die Stahltür vorsichtig hinter sich zu.
Walja zog jäh die Hand aus der Jacke und sprühte ihrem Verfolger den Gasstrahl ins Gesicht. Der brüllte auf und fiel zu Boden. Dabei ließ er einen kleinen metallischen Gegenstand fallen.
Ein Messer! schoß es ihr durch den Kopf. Sie rannte wie wild quer durch den Park, an zwei Häuserblöcken vorbei und stürmte mit heftig klopfendem Herzen in die Milizstation hinein.
»Gerade wollte mich einer umbringen, dort im Park … Ich habe ihm Gas ins Gesicht gesprüht. Er ist umgefallen …«
Vor Aufregung bemerkte Walja nicht sofort Dmitri Kruglow, der neben dem Diensthabenden an einem Tischchen saß, wo sie gerade gemeinsam geraucht und Tee getrunken hatten.
»Beruhigen Sie sich«, sagte der Diensthabende streng. »Nicht so schnell und alles der Reihe nach. Ihr Name?«
»Das hat doch Zeit! Wir müssen hin, bevor er zu sich kommt. Jemand hat ihn auf mich angesetzt, und ich weiß auch, wer.«
Da sprang Dmitri auf, stieß dabei das Glas mit dem heißen Tee um und sprang über die Barriere. »Beruhige dich, Walja, komm, wir gehen zusammen.«
»He, Kruglow!« empörte sich der Diensthabende. »Wisch wenigstens die Schweinerei hier auf. Du hast mir die Hose naß gemacht!«
Aber Kruglow und Walja hörten ihn schon nicht mehr.
»War er allein?« fragte Mitja im Laufen.
»Ja.«
In drei Minuten hatten sie den Park erreicht.
»Da ist er!« Walja wies ins Dunkel.
Prussak versuchte hochzukommen, aber es gelang ihm nicht.
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