Lenas Flucht
hielt.
Sweta dachte sich, daß Lena das Haus in den nächsten eineinhalb Stunden sicher nicht verlassen werde. Schließlich mußte sie duschen und sich ein wenig von dem Flug erholen. Sweta fragte den ersten besten Passanten, der ihr in den Weg kam: »Wo ist hier in der Gegend ein Hotel?«
Der beleibte Fünfzigjährige hatte einen weißen Zwergpudel im Arm, der mit Jacke, Mützchen und Stiefelchen kostümiert war. Herrchen und Pudel erwiesen sich als sehr gesprächig. Der Hund kläffte freundlich, und der Mann plapperte los: »Leider gibt es hier in der Nähe kein anständiges Hotel, Madam, aber im Haus gegenüber ist ein Studio zu vermieten. Es ist groß und sauber. Ich bin mit den Besitzern befreundet – sehr nette Leute. Einer so hübschen Lady wie Ihnen wird es dort bestimmt gefallen. Und es ist auch nicht sehr teuer.«
Eine Minute später klingelte der Dicke bereits an der Tür des zweistöckigen Hauses. Eine schwergewichtige Frau in Shorts und T-Shirt erschien auf der Schwelle.
»Hallo, Suzy! Wie geht es dir? Siehst hervorragend aus! Diese junge Dame hier möchte dein Studio mieten.«
»Oh! Das freut mich aber! Treten Sie ein, Madam. Sind Sie Schauspielerin oder Fotomodell? Wie heißen Sie? Wie geht es Ihnen? Für wie lange möchten Sie das Studio haben?«
Suzy hatte eine dünne Kinderstimme, die zu ihrer eindrucksvollen Erscheinung überhaupt nicht passen wollte.
Das Studio stellte sich als nicht sehr große Einzimmerwohnungmit separatem Eingang heraus. Sweta gefiel es sofort. Besonders günstig war, daß sie vom Fenster der kleinen Küche Stevens Haus voll im Blick hatte.
1989 hatte Lena einen amerikanischen Sowjetologen, Professor an der Columbia University, für eine große Zeitung interviewt. Als Siebzigjähriger hatte er zum ersten Mal den Boden Rußlands betreten, das fünfzig Jahre lang sein Arbeitsgegenstand gewesen war.
Er bat Lena, einige Kapitel seines Buches mit dem Titel »Apokalypse auf russisch« zu übersetzen. Auf 500 Seiten versuchte der Professor dort umständlich nachzuweisen, daß der Bolschewismus im russischen Nationalcharakter schon seit Jaroslaw dem Weisen (987–1054), einem Kiewer Fürsten, der die erste Gesetzessammlung der Kiewer Rus herausgab, angelegt sei.
Lena übersetzte die Kapitel, wagte es aber, dem siebzigjährigen Sowjetologen zu sagen, daß sie den Hauptthesen seiner monumentalen Arbeit nicht zustimmen konnte. Der Professor war nicht beleidigt, sondern fand im Gegenteil Gefallen an der Idee, mit Lena an der Columbia University darüber öffentlich zu disputieren.
Er war kaum eine Woche aus Rußland abgereist, als bereits eine offizielle Einladung für einige Vorträge an der Universität eintraf. Darauf bereitete sich Lena gründlich vor. Aber bereits bei der ersten Begegnung mit Studenten und Lehrkräften stellte sie fest, daß sie das hätte seinlassen können. Hier mußte man vor allem ein flinkes Mundwerk und keinerlei Hemmungen haben.
Die Sache ähnelte eher einem Unterhaltungsabend: Die Zuhörer saßen auf Tischen und Fensterbänken, aßen, tranken und stellten die unglaublichsten Fragen: Wieviel Prozent der russischen Frauen beteiligen sich an der internationalen feministischen Bewegung? Wie sieht man heute in Rußland das Werk der Dichter der Revolution? Stimmt es, daß Majakowski nicht Selbstmord beging, sondern ermordet wurde?Dabei konnte der Wissensstand über Rußland in einem solchen Auditorium von null bis annehmbar schwanken.
Eine grauhaarige Dozentin trat an Lena heran und stopfte ihr Kekse in den Mund. Sie hatte sie für den Gast aus dem hungernden Rußland gebacken, wo sich nach ihrer Vorstellung die Bären durch heruntergekommene Städte trollten, die Männer in Fußlappen und die Angehörigen des KGB mit umgehängter Maschinenpistole herumliefen …
Nach diesem ersten Besuch wurde Lena regelmäßig eingeladen.
Als sie jetzt aus der U-Bahn-Station »Columbia University« ans Tageslicht trat und an einer Kreuzung auf Grün wartete, wollte sie sich auf ihre erste Vorlesung einstellen. Sie konnte es nicht. Keine Spur von Leichtigkeit und Ungezwungenheit. Sie war nur müde und wollte schlafen. Der sechzehnstündige Flug und die durchwachte Nacht davor machten sich bemerkbar.
Die Ampel sprang auf Grün. In ihre Gedanken versunken, betrat Lena die Fahrbahn. Mitten auf der breiten Columbia Avenue packte sie plötzlich jemand von hinten bei den Schultern und riß sie zurück. In diesem Augenblick schoß ein roter Jaguar mit hohem Tempo
Weitere Kostenlose Bücher