Lenas Tagebuch
blieb so hartnäckig, dass wir uns schließlich einverstanden erklärten. Sie las allen aus Zucker die Zukunft. Ich ließ mich auch dazu verleiten.
»Dir ist Folgendes vorbestimmt, meine gnädiges Fräulein, meine Teuerste. Du wirst in naher Zukunft deinen König wiedersehen. Und diese Begegnung wird unerwartet und unverhofft sein, und dadurch wirst du in deinem Herzen eine unsägliche Freude empfinden.«
Sie sprach schnell, im Singsang, blickte mal zu mir, mal in den Spiegel.
»Und vor dir liegt noch ein glücklicher Weg. Dich wird auf diesem Weg eine riesengroße Freude durch deinen geliebten blonden König erwarten.«
»Woher weißt du denn«, fragte ich, »dass mein König blond und nicht dunkelhaarig ist?«
»Das, mein gnädiges Fräulein, meine Liebe, meine Teuerste, zeigt mein Spiegel.«
»Ach, du lügst doch wie gedruckt«, sagte jemand. »Das ist doch ein gewöhnlicher Spiegel, den du da hast.«
»Wenn es ein gewöhnlicher wäre, würde ich was ganz anders sagen«, erwiderte sie mit zornblitzenden Augen, lächelte dann plötzlich wieder süßlich und fuhr fort.
Aber ich fragte sie: »Dann sag mir doch bitte, wenn dein Spiegel so außergewöhnlich ist, wie mein König heißt.« Sie schaute mich irgendwie beleidigt und erbost an.
»Ja, ja, das ist interessant«, sagten die anderen.
»Wolodja 36 «, brummte sie und setzte mit ungewöhnlichem Eifer ihren Singsang fort: »Und so wirst du, gnädiges Fräulein, im Leben durch deinen innig geliebten Mann märchenhaftes Glück erleben. Und so wirst du leben und vor Glück trällern. Keine bösen Tage erleben.«
So sagte mir die Zigeunerin wahr. Und anderthalb Stunden später traf ich tatsächlich unerwartet Wowka. Und einzig durch ihn war der Weg nach Leningrad für mich glücklich.
Was für interessante Zufälle es im Leben doch gibt.
2. September
»Der Feind steht vor den Toren Leningrads. In der unmittelbaren Umgebung von Leningrad kämpfen die tapferen Soldaten der Roten Armee …!!« Das sagte die Rundfunksprecherin.
Ich habe geschlafen, aber man erzählt, dass man in dieser Nacht deutlicher als früher den Kanonendonner hörte.
Seit heute wurden die auf die Lebensmittelkarten zustehenden Rationen verringert. Wir bekommen jetzt nur noch ein Kilogramm Brot am Tag.
Bin gerade draußen herumgelaufen. Habe die Lebensmittelläden abgeklappert. Wie trist und leer es doch überall ist! Im Roskond, wo zwar alles immer teuer war, es dafür aber alles im Überfluss gab, sind die Regale jetzt leer: kein einziger Kuchen, keine Torten. Alle Schaufenster sind mit Brettern zugenagelt. Zwei Laster sind vorbeigefahren. Der erste mit Anhänger, auf dem der mit einer Plane abgedeckte völlig demolierte Rumpf eines propellerlosen Jagdflugzeugs mit einem kaputten Leitwerk lag. Auf dem anderen Laster wurden die Flügel separat transportiert; sie waren auch kaputt und trugen rote Sterne. So wehmütig wurde es mir da ums Herz.
Jetzt muss ich mit eigenen Augen erleben, was ich bisher nur im Radio gehört habe, in Büchern gelesen oder von der Verwandtschaft gehört habe. Aber jetzt geht es ja noch, jetzt erzittern noch keine Wände vom Kanonendonner, noch klaffen keine Schusslöcher in der Wand.
4. September
Es gab schon lange keinen Fliegeralarm mehr, aber gestern um Viertel nach sieben heulte die Sirene wieder. Der Fliegeralarm dauerte genau eine Stunde. Nachts um halb zwei gab es einen zweiten Fliegeralarm.
Heute Morgen dauerte der Fliegeralarm anderthalb Stunden.
Er ist erst seit Kurzem vorbei, aber das Geschützfeuer hört nicht auf. Die Einschläge kommen immer näher. Sie lassen schon die Fensterscheiben erzittern. Gut, dass ich sie gestern mit Mull beklebt habe. Was werden wir noch alles durchmachen müssen?!
5. September
Heute kurz vor acht, direkt nach dem Fliegeralarm, der eine Dreiviertelstunde gedauert hatte, bin ich zu Tamara gegangen und bis halb zehn bei ihr geblieben. Wir haben wenig gesprochen, weil wir Grammofon gehört haben. Da hören wir also Grammofon, plötzlich vernehmen wir aufgeregte Stimmen im Flur. Olga Antonowna ist hinausgegangen, um zu erfahren, was passiert ist. Bald kam sie zurück und teilte uns mit: »An der Ecke Predtetschenskaja und Glasowskaja hat eine Granate ein dreistöckiges Gebäude getroffen, das Dach ist ganz geblieben, aber aus dem dritten und dem zweiten Stockwerk sind zwei Wohnungen komplett herausgerissen worden.« Tamara und ich konnten es nicht glauben. Bis wir es mit eigenen Augen sehen, werden
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