Lenke meine Fuesse Herr
hinsehe, ist das der Muschelträger von gestern. Gerhard kommt aus Kressbronn und ist — genau wie ich — von zuhause losgelaufen mit dem Ziel Finisterre. „Zeig mal deine Schuhsohlen!“, fordert er mich auf und versichert mir, dass er meine Fußabdrücke gemeinsam mit Hundespuren schon vor Lausanne gesehen hat. Und auch das Wellenmuster unter meinen Sandalen kommt ihm bekannt vor. Er ist einige Jahre älter als ich, baut Modellschiffe und ist letztes Jahr vom Bodensee bis in seine sauerländische Heimat marschiert. All das erzählt er mir, während wir selbstverständlich den Weg gemeinsam fortsetzen. Er hat einen ganz schönen Schritt drauf und ich bin froh, dass ich auf diese Weise etwas weniger bummle als die erste Stunde aus der Stadt heraus. Wir kommen an keiner Bank mehr vorbei — vielleicht in den nächsten Orten? Es regnet. Ich spare mir den Poncho und spanne nur den Regenschirm auf, doch als wir das offene Feld erreichen, hört es auf und ich kann den Knirps wieder einstecken. Wir kommen nach Campessieres — alte Malteserkomturei mit großer Kirche — drinnen Ausgrabungen: Menschenknochen in Plastikschüsseln: Mit denen macht man radiologische Untersuchungen um festzustellen, woher sie kommen. Ich denke mir, dass man noch vor zweihundert Jahren aus den Knochenresten Reliquien gemacht hätte — irgendein Heiliger wäre dem zuständigen Bischof schon erschienen und hätte ihm gesagt: „Ich bin das!“
Endlich die französische Grenze: Ab jetzt wird das Leben hoffentlich billiger. Neue Wegmarkierungen, das Weiß-Rot des GR 65, von dem mir Inge so viel erzählt hat, und die stilisierte Muschel, der „Jackl“, wie Gerhard und ich das nennen. In Neydens auf dem Campingplatz tauscht mir die nette Dame am Empfang 100 Franken in Euro um. Der Bäcker hat offen: Wir kaufen mit Schweizer Geld ein und ich bekomme meinen letzten 20-Franken-Schein auch noch getauscht. Die Wegbeschreibung im „Outdoor“-Jakobswegführer ist wesentlich besser als die im Führer für die Schweiz — und auch die Markierung ist phantastisch — der „Jackl“ hängt an fast jedem Laternenpfahl!
Es regnet wieder, ich schwitze unterm Poncho und bin froh, dass ich die Zipp-off-Funktionshose anhabe, weil die sich nicht vollsaugt und sehr schnell abtrocknet. Kein Vergleich zu den Jeans, mit denen ich mich bisher abgeplagt habe! Gegen halb zwei erreichen wir Beaumont — wie der Name sagt, oben auf dem Berg, mit sicher sehr schöner Aussicht, wenn es denn eine gäbe vor lauter Regen! Wir finden die Gîte und die bildhübsche und sehr charmante Wirtin hilft uns weiter: Sie telefoniert für uns nach Chatillon, etwas abseits vom Chemin und verkauft jedem von uns noch einen Herbergs- und Routenführer: eine hervorragende Ergänzung zum normalen Wanderführer. Wir wären gern noch geblieben, doch: Ultreia! Weiter!
Am Ortsausgang an der Kirche eine schöne Jakobsstatue, die Kirche selbst ein Ort der Stille — schön! Es folgt ein Marsch in strömendem Regen entlang der vielbefahrenen Nationalstraße — schrecklich! Wir folgen den Straßenschildern — es regnet — und landen endlich in Copponnex. Ein freundlicher Herr mit rudimentären Deutschkenntnissen (er war mal in der Armee im Schwarzwald stationiert) zeichnet uns sogar den Weg nach Chatillon auf: „Nach dem Friedhof links! Und vorher immer gerade aus!“ Nur: Die Straße macht Bögen, geradeaus geht’s öfters von der Straße weg, der Friedhof ist gut versteckt. Doch irgendwie finden wir ihn und wissen, wir sind richtig. Ohne Karte und beide ohne große Sprachkenntnisse wäre es schon fatal, sich zu verirren! Weiter Straße, da ist Chatillon, und nachdem wir erst einmal bei den Falschen angefragt haben, landen wir endlich bei Madame Bouvier.
Eine herzliche alte Dame mit überquellendem Wortschwall, vor dem mein bisschen Französisch kapituliert. In der alten Scheune ein Zimmer mit Doppelbett — ich werde mich mit Gerhard schon nicht schlagen. Duschen, Wäsche waschen, Tagebuch schreiben und um halb acht geht es runter zum Abendessen. Wir essen im Familienkreis: Madame steht meistens am Herd, ihr Mann isst mit, der Bruder, die Söhne: Es gibt einen Aperitif (Kir), sauer eingelegten Blumenkohl mit Sauce, Tintenfischringe, Huhn mit Nudeln, Kuchen, einen selbst gebrannten Cidre hinterher — wir tafeln wie die Fürsten zweieinhalb Stunden lang und fallen dann ins Bett.
Dienstag, 24. Mai 2005
Chattillon – Motz 31 km
Um sieben Uhr Frühstück. Madame bedient uns, trinkt
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