Lenke meine Fuesse Herr
die Gîte. Der Deutsche klagt über sein missglücktes Essen und verzieht sich — ich koche wie zuhause: Nudeln gleich in der Fleischbrühe, Schinken gewürfelt hinein, Kräuter, Salz — zwei große Teller voll gibt es! Ich setze mich an den Tisch, habe eine Weinflasche aufgemacht und schenke mir gerade ein — da blicke ich durch die Glastüre nach draußen und sehe Silvya und Jürn vorbeigehen! Aufgesprungen, Tür auf, einen Schrei rausgelassen — und dann kommen sie mir nicht davon, ohne mit mir den Wein zu teilen. Sie freuen sich sehr, mich zu sehen, hatten sich schon Sorgen gemacht, wie es mit mir wohl weiterginge. Sie erzählen, dass sie unterwegs Gerhard überholt haben. Das erste, was er gefragt habe, sei gewesen: Könnt ihr mir ein Quartier besorgen? Aber er sei nicht im gleichen Hotel wie sie. Ich bin nur froh, dass er nicht in die Gîte gekommen ist. Eigentlich böse von mir, doch es ist besser, wieder alleine zu sein. Ich nehme herzlich Abschied von den Schweizern, auch erleichtert, denn ich habe meine Schulden bezahlen können.
Zwei Französinnen sind mittlerweile eingetroffen: eine anscheinend zu Fuß, die andere begleitet sie von Etappe zu Etappe mit dem Wagen. Wir teilen uns den restlichen Wein, nachdem ich ihnen denjenigen der drei Schlafsäle gezeigt habe, der noch ganz frei ist. Der Deutsche ist auch kurz da und erregt sich über die Autofahrerin: In Spanien käme die nie in eine Herberge! Ich verkneife mir, ihn daraufhinzuweisen, dass dies keine Pilgerherberge ist, sondern eine Unterkunft für Wanderer, und die Franzosen sehen das anscheinend nicht so verbissen! Er verkriecht sich mit seinem Wanderführer in sein Schlafzimmer, ich schmökere noch ein bisschen im Gästebuch: langes Lamento eines Deutschen, der sich vom Jakobsweg Wunder welche Erleuchtung und Umkrempelung seiner Seele erhofft hat und sich jetzt bitter beklagt, das einzige, was ihm widerfahren sei, seien wunde Füße und müde Beine. Welch armer Mensch! Ich habe Wunder erlebt — nicht zuletzt heute!
Draußen schmettert eine Amsel. Es ist zwanzig nach acht: Ich werde gleich ins Bett gehen und morgen möglichst früh weg. Bis jetzt war dies meine schönste Etappe.
Donnerstag, 2. Juni 2005
Montfaucon – Moulin de Guérin 37 km
Ich habe gut geschlafen, endlich wieder mal alleine im Zimmer, bei offenem Fenster. Ab fünf Uhr döse ich eigentlich nur noch: Mein rechtes Bein schmerzt, ist geschwollen, und ich habe es mit Voltaren eingerieben. Trotzdem pocht es weiter — ich versuche es mit Kühle, indem ich es aus dem Schlafsack strecke, das hilft ein bisschen. Kurz vor sechs stehe ich auf. Ich habe noch ein Stück Baguette und mache mir mit der Feigenmarmelade, die die Französinnen auf dem Tisch haben stehen lassen — „pour votre déjeuner!“ — zwei köstliche Brote zum Morgentee. Dann noch ein Croissant, eine Banane — was geht es mir gut!
Ich packe, bringe den Schlüssel zum Tourist-Office und um kurz nach sieben hat mich der Jakobsweg wieder. Das rechte Bein schmerzt bei jedem Schritt, nur manchmal gibt es Ruhe. Ich gehe sehr langsam — mein Körper mag offenbar nicht schneller — in den ersten beiden Stunden gerade einmal sechseinhalb Kilometer. Gegen viertel vor zehn bin ich in Tence.
Ein netter Hund mit einem Kippohr wie ein Collie beschnuppert mich freundlich, ein Schild sagt: „Entrée Chapelle“ und ich finde mich in einer ruhigen, schönen Kirche wieder, in der ein stiller Beter sitzt. Ich danke Gott für den herrlichen Tag gestern und die ruhige Nacht, für die vielen freundlichen, hilfsbereiten Menschen, denen ich begegnen durfte und bitte um Kraft und Schutz für die nächsten beiden Drittel meines Weges.
Dann setze ich mich vor einem kleinen Lokal hinter einen großen Café au lait und schreibe Tagebuch. Während ich da im Schatten sitze, sehe ich Gerhard die Kirche fotografieren, in ihr verschwinden und wieder zum Vorschein kommen. Ich bleibe still sitzen, mache mich ganz klein und er bemerkt mich offensichtlich nicht. Lass ziehen...
Ich sitze nun schon fast eine Dreiviertelstunde hier und schreibe. Langsam wird es doch Zeit, weiterzugehen — aber es ist so schön, mal faul zu sein! Zwei, drei Tage noch, und dann bin ich in Le Puy — da bekommt mein Körper einen ganzen Tag Ruhe.
Ich habe mich aufgerafft, habe in der Boulangerie nebenan noch eingekauft. Dann geht es weiter: über die Brücke — von hier bietet die Stadt ein malerisches Motiv — an einer Drechselei vorbei mit wunderschönen
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