Lenke meine Fuesse Herr
Kapelle geht es eine Treppe hoch, endlos und steil, wie die Himmelstreppe in dem alten Kinderbuch von Hans Wundersam. Die Treppe endet an einem Bauernhof, doch es geht weiter aufwärts. Hier ist der Fels nicht mehr Basalt oder Lavaschlacke, sondern guter, solider, blauweißer Granit mit großen Quarzstücken. Herrliche Blicke zurück ins Alliertal und voraus in die Berge — und jetzt machen wir erst einmal Mittag! Jacques, der Franzose, und ich machen den Anfang und picknicken auf einer Wiese, dann kommt Marie-Thérèse, die kleine Stämmige. Die beiden Deutschen von heute Morgen stoßen zu uns, ein Paar aus Kanada. Elisabeth, die Belgierin, der ich gestern in Le Puy den Weg aus der Stadt gefolgt bin, geht an uns vorüber. Es gibt Brot, Wurst, Tee, Tomate, dann starte ich als Erster und hole kurz nach dem nächsten Dorf Elisabeth ein. Wir wechseln ein paar Worte — mein Französisch ist doch recht dürftig — und dann lasse ich sie hinter mir.
Bald stehe ich auf dem Berg über meinem Tagesziel: vor mir eine skurrile Holzskulptur, weiter rechts das Standbild der Bestie von Sauges. Der Riesenwolf hatte im 18. Jahrhundert über hundert Frauen und Kinder getötet, lese ich im Wanderführer, der König hat Militär ins Land geschickt, vergeblich. Doch dann erlegte ein Einheimischer das Tier. Ich meine, darüber hat man in letzter Zeit sogar einen Film gedreht. Weiter oben auf einer Anhöhe eine Marienstatue — lourdesmäßig kitschig und weit überlebensgroß — soll die den Wolf einschüchtern?
Es sind nur noch wenige Schritte in den Ort und es ist gerade mal halb zwei. Also ein Dorf weiter! Kaum gedacht, meldet sich plötzlich mein Schienbeinmuskel wieder, und wie! Als zöge mir einer ein Messer den Knochen entlang! Ich habe verstanden und sage laut: „Schon gut, Bein! Wir bleiben heute hier!“ Sofort lässt der Schmerz nach — ganz hört er nicht auf, damit ich nicht leichtsinnig werde, aber ich komme doch in den Ort, ohne allzu jämmerlich zu hinken. Ich finde die „Gîte de Margeride“, die der Führer empfiehlt und muss noch ein bisschen warten, bis ich um
14.00 Uhr einchecken kann. Jacques ist auch schon da, wir teilen uns ein Zimmer mit Blick über das Tal hinweg. Wir sind noch am Einräumen, da sehen wir eine Gestalt den Wanderweg hinab kommen. Jacques ist beeindruckt, dass ich sogar ein kleines Fernrohr dabeihabe und bestätigt nach einem Blick durch das Glas: „Oui, c’est Elisabeth!“
Duschen, umziehen, Wäsche waschen. Mittlerweile sind auch Marie-Thérèse und Elisabeth eingelaufen und wir gehen erstmal gemeinsam eins trinken und dann in die Kirche — schön und voller Atmosphäre. Später sitze ich vor einer Bar und genieße einen halben Liter Paulaner (luxuriös teuer in Frankreich!), da spricht mich eine Frau an: „Ich dachte, du wärst schon längst über alle Berge!?“
Ich erinnere mich an sie: Samstag in Le Puy war sie vor einem Andenkenladen gestanden, dem gleichen, an dem ich meine kleine „silberne“ Jakobsmuschel gekauft habe, die ich gemeinsam mit Notre Dame de Le Puy an der Schnur um den Hals trage. Sie wollte sich einen Wanderstock kaufen und ich hatte ihr zu dem längsten geraten, der vorrätig war. Esther heißt sie und sie übernachtet auch in der Gîte de Margeride. Wir sprechen über Ausrüstung und ich erzähle ihr, dass ich mit dem Gedanken spiele, mir ein Funktionshemd zu kaufen. Da zeigt sie die Straße hinab und sagt: „Da drüben haben sie eine gute Auswahl an Wanderkleidung — vielleicht findest du da was!“ Und so kaufe ich ein Funktionshemd aus Microfaser mit speziellem UV-Schutz und dazu noch eine Fleecejacke. Esther hatte mir gesagt, sie werde morgen Sachen nach Hause schicken — ich entschließe mich, den schweren Spanien-Wanderführer, allerdings ohne die Karten, eines der Seersuckerhemden und das Sweatshirt auf die Post zu geben — Postkarten und Kirchenführer sind auch unnützer Ballast im Rucksack.
Nach dem Abendessen treffen Marie-Thérèse, Jacques, Elisabeth, ihr gerade eingetroffener Freund Eric und ich uns noch in einem der Klassenzimmer der Gîte, die eigentlich eine Schule ist, und leeren dort recht vergnüglich noch ein Fläschchen Wein. Um neun Uhr bin ich im Bett.
Mittwoch, 8. Juni 2005
Sauges – Saint-Alban-sur-Limagnole 31 km
Ich habe gut geschlafen, obwohl ich in meinem Seidenschlafsack unter der Wolldecke sogar ein wenig geschwitzt habe. Ich will versuchen, trotz der Verzögerung durch den Gang auf die Post heute noch bis
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