Lenke meine Fuesse Herr
nehmen zu. Ich heule unterm Laufen und bitte Gott um Hilfe. Zeitweise geht es besser, dann setzen die Stiche wieder ein. Völlig am Ende setze ich mich auf einen Stein am Wegrand. Zwei Spanierinnen — Pilger wie ich — bieten mir Hilfe an. Ich bin verzweifelt, doch ich sage: „Es geht schon!“, und gehe weiter. Stiche im Magen und jetzt auch im Unterbauch. In Sichtweite von Ventosa ist endgültig Schluss: Die beiden Spanierinnen schleppen mich, der ich vor Schmerzen nur noch weine und mich krümme, ins Refugio.
Dort kümmert man sich liebevoll und besorgt um mich, weist mir das beste Bett zu. Ich bekomme einen Kamillentee, zwei Schweizer Radfahrer geben mir etwas von ihren Nudeln ab, als sich mein Magen etwas beruhigt hat. Ich schlafe eine, zwei Stunden, mache mir einen Minzetee, esse noch einmal Nudeln. Ich sitze noch ein paar Minuten auf der Bank vor dem Refugio, warte darauf, dass die Stiche wieder anfangen, doch mein Magen hält Ruhe: Ich bin nur zu Tode erschöpft. Noch früh am Abend liege ich im Bett und schlafe.
Montag, 11. Juli 2005
Ventosa — Grañón 41 km
Gegen halb sieben bin ich auf dem Weg — es geht mir blendend! Ein Stoßgebet zum Himmel: Lieber Gott — danke! Ich habe noch etwas gefrühstückt — der Magen hält Ruhe — und mich bei all denen bedankt, die sich gestern um mich gekümmert haben.
Über sanft gewelltes Land, endlose Weizenfelder und Weinplantagen mit kilometerlangen Bewässerungsrinnen nach Nájera. In der Stadtkirche ist Messe — da möchte ich nicht hineinplatzen. Doch ein kleiner Stadtbummel ist drin — nettes Städtchen! Überall merkt man, anders als in Logroño, dass versucht wird, die alte Bausubstanz zu erhalten. Der Konvent ist leider geschlossen und dort steht plötzlich die Deutsche von gestern Früh. Sie war auch in Ventosa, hatte große Schwierigkeiten mit Füßen und Rucksack und ist mit dem Taxi hergekommen. Jetzt läuft sie mit erheblich leichterem Gepäck weiter.
Nach Nájera erst einmal kleine Steigung, wieder endlose Felder mit Bewässerungsanlagen — nicht Wassersprüher wie in Frankreich, sondern ein ausgedehntes, ausgeklügeltes System von Rinnen und Gräben mit Schiebern und Absperrungen. Der Himmel klart auf, es wird warm, aber erträglich. In Azofra ist die Kirche natürlich zu, doch ich setze mich davor im Schatten auf die Bank und picknicke. Runter ins Dorf: Da ist vor der Bar große Pilgerversammlung inklusive einer Gruppe Wanderer aus Berlin, die ich vorhin überholt habe. Als ich am großen Brunnen meine Wasserflasche füllen will, macht mich ein Dörfler darauf aufmerksam, dass das kein Trinkwasser ist — aus dem kleinen Hahn an der Rückseite, daraus kann man trinken! Ich bin recht dankbar, denn noch so einen Tag wie gestern...
Nach Cirueña sollen es 180 Meter Steigung sein, doch ich spüre sie kaum. Als ich in den Ort einlaufe, sitzt am Brunnen ein Pilger und picknickt, doch mir ist jetzt nach etwas Handfestem. So sitze ich bald in der Bar, habe einen halben Liter Bier vor mir und ein Riesensandwich, fetttriefend, mit gebratenem Bacon und Käse. Am Nebentisch sitzt eine Spanierin mit ihrer kleinen Tochter, die beiden tuscheln miteinander, dann kommt die Kleine und fragt: „Where are you from?“, und berichtet dann der Mutter. Als ich meinen Pilgerausweis abstempeln lasse, sehen sich beide interessiert das ellenlange Dokument an und lassen es sich erklären. Später schenkt mir die Kleine drei Bonbons und ich revanchiere mich mit dem Talismanstein, den mir Marcellino el Peregrino gestern geschenkt hat.
Um halb zwei weiter nach Santo Domingo de la Calzada. Eine schöne alte Stadt — ich bin versucht, in der Herberge einzukehren, doch ich trage mich nur in das Buch ein, das davor ausliegt und gehe in die Kathedrale — doch allein die wäre einen Besichtigungstag wert. Überhaupt: Wollte ich all das, was ich bisher an Kulturschätzen gesehen und auch ausgelassen habe, wirklich intensiv besehen und verarbeiten, auch etwas abseits vom Weg: Ich wäre dreimal so lange unterwegs. Ich streife durch die Kathedrale, staune, sehe, doch richtig aufnehmen kann ich nicht mehr — zu viel ist in den letzten Monaten auf mich eingestürmt! Angenehm die leise Beschallung des Raums: Bach, eine Kantate, die mir sehr bekannt vorkommt, doch ich verstehe den Text nicht und kann nicht sagen, welche es ist. Dennoch: einfach schön! Plötzlich hinter mir lautes Krähen — ach ja, die Hühner von San Domingo! Hoch oben in der Wand der Käfig, unerreichbar
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