Lenke meine Fuesse Herr
den Gesängen, die wir am Nachmittag geübt haben und dem Pilgerlied — Manuela singt mit! Gegen halb elf schlafe ich dann auf einer dünnen Matte im Schlafsaal den sanften Schlaf des Gerechten.
Mittwoch, 13. Juli 2005
Tosantos – Cardeñuela 33 km
Nach einem gründlichen Frühstück bin ich um halb sieben auf dem Weg. Die Strecke bis Villafranca Montes de Oca ist schnell zurückgelegt — ich wundere mich nur, dass ich Manuela, ihren Mann und die Freundin nicht überhole. In Villafranca auf dem LKW-Parkplatz vor dem Hotelrestaurant eine Ansammlung von Fahrrädern — ich habe noch keinen Hunger und laufe durch. Kirche nicht zu besichtigen, schade, soll sehr eindrucksvoll sein.
Einen steilen , steinigen Pfad hoch, wenigstens mal kein Asphalt oder breiter Feldweg, doch auch hier kommen Biker angerauscht und sind beleidigt, wenn man ihnen nicht sofort Platz macht. Hinauf in den Wald; erst ist es ein herrlich schattiger Eichenwald, geht aber bald in einen Kiefernwald mit Erika und Ginster über — fast wie in Jütland oder der Lüneburger Heide! Der Weg ist nun eine fußballfeldbreite Brandschneise, bietet nur ab und zu Schatten, ist aber gut begehbar. Am Kriegerdenkmal mitten im Wald zippe ich die Hosenbeine ab und mache eine kurze Rast — und da kommen die Schweizer. Ich muss Manuela unterm Laufen noch einmal die Melodie des Pilgerlieds beibringen, den Text hat sie schon im Kopf, hat ihn über Nacht auswendig gelernt. Als sie meint, sie beherrsche jetzt auch die Melodie, lege ich wieder einen Zahn zu und ziehe durch den Kiefernforst davon.
Am Weg parkt das Wohnmobil eines ulkigen, etwas aufdringlichen Engländers, der bei jedem, der vorbeikommt, sein Sprüchlein abspult: „Ich bin ein Engländer und Santiagopilger und ich bin hier, um den Pilgern die Füße zu verbinden und ihnen eine Erfrischung anzubieten!“ Nur, dass er sich Kaffee und Kekse bezahlen lässt, und das nicht zu knapp. Während ich noch meinen Kaffee trinke und mit dem Engländer schwatze, kommt Manuela mit Mann und Freundin und wir repetieren noch einmal das Pilgerlied.
In San Juan de Ortega sehen wir uns wieder. Herrlich die Kirche mit dem Grab des Heiligen! Als ich herauskomme, sind alle da, die gestern Abend in Tosantos waren und noch einige mehr, ich muss - oder darf - gemeinsam mit Manuela in der wunderbaren Akustik der Kirche das Pilgerlied singen, erhalte dafür Küsschen und Umarmungen. Eine Spanierin schreibt den spanischen Text ab und ich den deutschen, dazu meine englische Übersetzung, dahinter meine E-Mail-Adresse und jetzt glaube ich, dass das Lied seinen Weg machen wird. Als ich mich verabschiede, gibt es noch einmal herzliche Umarmungen und Küsschen nicht nur auf die Wange.
Aus dem Wald heraus nach Ages — leider komme ich nicht in die Kirche — und da ist noch einmal eine ganze Gruppe von gestern: Ich singe gerade unterm Laufen die Bassstimme des „Lacrimosa“ aus dem Mozart-Requiem, als hinter mir der Tenor einstimmt: ein Musikstudent aus Rom! Pete, der Australier, nimmt auf, wie ich nun mit dem Römer und einem Spanier die Melodie des Pilgerliedes einübe — den Text haben sie schon abgeschrieben. Bis Atapuerca gehen Pete und ich zusammen — hier in der Gegend hat man 800 000 Jahre alte Steinzeitmenschen gefunden — eine Sensation, denn das sind wohl die ältesten Europäer! Pete erklärt, er wolle sich die genauer ansehen. Er ist von Australien hergekommen, um die Wurzeln seiner Familie zu begreifen, und das, meint er, gehört dazu. Wir kommen ans Refugio, jetzt, am späten Mittag fast schon voll. Wir, das heißt, die beiden Sänger, Pete und ich, beschließen, das Refugio den Frauen zu überlassen. Die anderen drei wollen in die Herberge in Olmos de Atapuerca, ich gehe weiter auf dem Camino.
Im Ort gibt es eine einzige Bar, vor der ich mich niederlasse: Kaffee und ein Bocadillo, ein längs aufgeschnittenes Stück Brot, belegt mit Schinken und Salat. Eine junge französische Pilgerin setzt sich zu mir, malerisch gekleidet und geschmückt wie eine Hippiebraut aus meiner Jugend, nur mit mehr Piercings — doch wir kommen nicht ins Gespräch: Sie ist stumm wie ein Fisch, nachdem sie gefragt hatte, ob der zweite
Stuhl am Tisch frei sei. Ich gehe weiter, sehe, dass das beinahe letzte Haus im Ort eine Panadería, eine Bäckerei, ist. Die hat zwar zu, doch man verkauft mir durchs offene Fenster ein wunderbar duftendes Brot frisch aus dem Ofen und noch ganz warm. Als der Camino die Straße verlässt, führt er in
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