Lennox 01 - Lennox
bisschen an der traurigen kleinen Familie White, die sich damit abgefunden hatte, dass der Vater und Ehemann auf dem Grund des Atlantischen Ozeans lag, und die dennoch auf seine Rückkehr aus einem Krieg zu warten schien, der längst vorüber war. Ich trank meinen Tee.
»Also ... wäre es Ihnen lieber, wenn ich ausziehe?«, fragte ich noch einmal, als Mrs. White zurückgekommen war.
»Ich möchte nur nicht, dass so etwas noch einmal vorkommt. Mehr sage ich jetzt nicht, Mr. Lennox. Kommt es noch einmal vor, sollten Sie sich wohl um eine andere Wohnung bemühen.«
»Einverstanden.« Ich trank die Tasse leer und stand auf. »Es wird nicht wieder vorkommen, Mrs. White. Übrigens, vielen Dank, dass Sie der Polizei gesagt haben, dass ich gestern Nacht hier war. Das hat mir viel ... Umstände erspart, könnte man sagen.«
»Ich habe nur die Wahrheit gesagt.«
Die Polizei hatte sich eingehend mit meiner Wohnung beschäftigt, und ich brauchte eine halbe Stunde, um alles wieder aufzuräumen. Meine Bleibe bestand aus zwei Zimmern mit Bad im Obergeschoss, die vom restlichen Haus abgetrennt waren. Die Zimmer waren geräumig und hatten große Schiebefenster, die viel Licht hereinließen und eine gute Sicht auf die Great Western Road boten. Der größere Raum war in ein Wohnzimmer mit Kochecke umgebaut worden. Die Miete, die Mrs. White verlangte, war angemessen, aber trotzdem ganz schön happig.
Als Erstes nahm ich meine Ausgabe von H. G. Wells’ Von kommenden Tagen , die mitten in meinen Bücherregalen stand. Ich schlug sie auf und vergewisserte mich, dass die Aushöhlung noch immer voller großer, weißer, frischer Fünf-Pfund-Noten der Bank von England war. Sie war es. Mein »Nibelungenhort« aus Deutschland, den ich während meiner Zeit in Glasgow ein bisschen hatte aufstocken können. Ich besaß viele Bücher, und sie waren mir als ziemlich sicheres Versteck erschienen: Polizisten sind selten Büchernarren. Als Nächstes sah ich nach, ob der Boden unter dem Bett unberührt war. Ich hob das Brett hoch, das ich herausgesägt hatte, und griff unter die Bohlen. Meine Hand umfasste den schweren, harten Gegenstand, den ich in ein Öltuch eingeschlagen hatte.
Er war noch da. Falls ich ihn brauchte.
3
Den Rest des Tages verschlief ich größtenteils, stand am nächsten Morgen früh auf, nahm ein Bad, rasierte mich und zog einen meiner besseren dunklen Anzüge an. Ich musste mich sauber und frisch fühlen. Die Nackenschmerzen plagten mich noch immer, und ich borgte mir von Mrs. White ein paar Aspirin. Außer den Schmerzen ließ mir noch irgendetwas anderes keine Ruhe, doch gelang es mir nicht, den Finger darauf zu legen. Die Zeitungen berichteten ausführlich über den Mord an Frankie McGahern, und meine Hauswirtin verhielt sich mir gegenüber noch reservierter.
Das Benzin wurde schon seit zwei Jahren nicht mehr rationiert, doch ich hatte mir angewöhnt, das Auto stehen zu lassen, wenn ich nur ins Büro wollte. Ich nahm die Straßenbahn in die Stadt und schloss die Tür meines Ein-Zimmer-Büros in der Gordon Street auf. Ich hatte schon öfters erwogen, das Büro aufzugeben, denn ich führte meine Geschäfte hauptsächlich vom Tresen des Horsehead aus, aber aus steuerlichen und rechtlichen Gründen war es ganz vernünftig, das Büro zu behalten. Außerdem brachte es mir hin und wieder einen Vermisstenfall ein, eine Scheidung oder einen Fabrikdiebstahl – etwas Legitimes, das ich der Polizei und dem Finanzamt vorweisen konnte.
Doch mein Büro machte mich nervöser als alles andere.
Während die Polizei meine Wohnung mit der üblichen Holzhammermethode durchwühlt hatte, gab es im Büro kein deutliches Anzeichen, dass jemand hier gewesen war, geschweige denn, es gefilzt hatte. Trotzdem wusste ich, dass es so gewesen war. Ich sah es daran, wie mein Telefon auf dem Schreibtisch stand. Und das Tintenfass. Ich sah es daran, wie ordentlich mein Sessel unter den Tisch geschoben war. Hier hatte jemand ganze Arbeit geleistet. Wer immer dahinter steckte, er wusste, wie man ein Zimmer durchsucht, ohne dass es auffällt. Die Polizei muss sich um so etwas keine Gedanken machen.
Nachdem ich jede Schublade und jede Akte durchgesehen hatte, war ich sicher, dass nichts fehlte. Ich schaute mir die Tür an und achtete besonders auf das Schlüsselloch. Keine Spur von gewaltsamem Eindringen, nicht einmal davon, dass jemand an dem Schloss herumgedoktert hatte. Und ich besaß die einzigen Schlüssel. Wer immer mein Büro durchsucht
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