Lennox 01 - Lennox
davonjagt, notieren die Leute sich das Nummernschild oder merken sich das Gesicht so gut, dass sie der Polizei eine Personenbeschreibung geben können. Wenn man den Eindruck erweckt, es nicht eilig zu haben, schauen die unbeteiligten Zuschauer einen nicht an, sondern behalten den Kopf unten für den Fall, dass man das Feuer noch nicht eingestellt hat. Und wenn man lässig und sorglos wirkt, haben mögliche Zeugen Angst, man könnte später zurückkommen, falls sie reden.
Wirklich sehr professionell ausgeführt, dieser Mord. Genauso professionell, wie mein Büro durchsucht worden war.
5
In Glasgow ist es schwer, auf Dauer von der Bildfläche zu verschwinden. Wie Jock Ferguson zu mir gesagt hatte, ist Glasgow im Grunde keine Stadt, sondern ein riesiges Dorf. Immerhin leistete Wilma Marshall – die Kleine, die Tam McGahern vernascht hatte – gute Arbeit. Ich hatte sie zum Haus ihrer Familie verfolgt. Die Eltern und zwei Schwestern hausten in einer Zweizimmerwohnung in einem Rattennest aus Mietskasernen, wo das Klo auf dem Treppenabsatz mit drei anderen Familien geteilt werden musste. Das Haus der Marshalls hätte man fast als Bruchbude bezeichnen können; aber dafür war es zu sehr heruntergekommen. Das gilt für fast drei Viertel aller Häuser in Glasgow. Ein Mädchen hätte alles getan, um aus der Wanzenbude rauszukommen. In solchen Slums entstand auch der bösartige Ehrgeiz, der die Glasgower Gangster seit Generationen antreibt. Und vielleicht auch den einen oder anderen Geschäftsmann.
Mit der Familie Marshall sprach ich nicht: Wenn Wilma sich im Gewahrsam der Polizei befand, war das Risiko zu groß, dass die Marshalls sich sofort an sie wendeten. Ich konnte nicht mal ihre Wohnung beobachten, denn die Glasgower Mietskasernen wimmelten vor Leben, menschlichem und anderem, und eine Menge neugierige Augen verfolgten rund um die Uhr das Kommen und Gehen. Auf der Straße wären mein Auto und ich sogar einem Blinden aufgefallen.
Aber in Glasgow bleibt man nicht lange verschwunden.
An einem Freitagnachmittag sah ich sie auf der Sauchiehall Street. Nicht Wilma Marshall, nach der ich hätte suchen sollen, sondern Lillian Andrews, die Frau des nervösen kleinen Geschäftsmannes mit dem feuchten Händedruck, der Nelke im Knopfloch und der unglaubwürdigen Geschichte, mit der er das Verschwinden und plötzliche Wiederauftauchen seiner Angetrauten zu erklären versuchte.
Ich hatte mir das Foto, das Andrews mir gab, genau angesehen, und ich erkannte Lillian Andrews auf der Stelle wieder. Sie war groß, mit dunklem Haar und vollem Mund, der mit tiefrotem Lippenstift geschminkt war. Der teure Stoff der maßgeschneiderten Jacke und des Bleistiftrocks schmiegte sich an ihre weiblichen Rundungen. Die Fuchspelzstola um ihre Schultern musste mehr gekostet haben, als der durchschnittliche Glasgower im Jahr verdiente. Ihre Züge waren gleichmäßig, aber nicht unbedingt schön. Trotzdem war Lillian Andrews ohne jeden Zweifel eine der attraktivsten Frauen, die ich je gesehen hatte. Sexappeal sickerte ihr aus jeder Pore.
Sie ertappte mich dabei, wie ich sie anstarrte, als ich auf der Straße an ihr vorbeiging, und ihre vollen Lippen zeigten ein kurzes, zuckendes Lächeln. Es war keine Ermutigung, sondern die Bestätigung der einzigen natürlichen Reaktion, die wohl jeder noch lebende, atmende, heterosexuelle Mann bei ihrem Anblick hatte. Natürlich erkannte sie mich nicht und hatte keine Ahnung, dass ihr Göttergatte mich erst engagiert hatte, um sie zu finden, nur um mich dann zu feuern. Trotzdem wich ich ihrem Blick aus. Ich wusste nicht, wieso: Ich arbeitete nicht mehr an dem Fall, und Lillian Andrews wurde offensichtlich nicht mehr vermisst, doch aus irgendeinem Grund wollte ich nicht, dass sie mich bemerkte.
Sie war in Begleitung einer Freundin, einer kleineren Frau mit goldblondem, leicht gewelltem Haar, fast genauso attraktiv wie Lillian selbst, aber nicht ganz so teuer gekleidet. Ich drehte mich weg und blickte in ein Schaufenster, dessen Auslage spärlich war, obwohl man die Rationierung fast vollständig aufgehoben hatte: Nüchternheit war ein Gemütszustand, der die schottische Psyche mit düsterem Trost zu erfüllen schien. Ich wartete, bis die beiden Frauen ungefähr zwanzig Meter entfernt waren und eine brauchbare Anzahl Passanten mich abschirmte. Dann folgte ich ihnen.
Es gelang mir, Lillian und ihre Begleiterin ungesehen zu beschatten, als sie gute zwei Stunden lang einkauften. In die größeren
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