Lennox 02 - Lennox Rückkehr
Whitehall noch immer Dokumente mit brisanten Details und würden dort noch wenigstens achtzig Jahre bleiben. Aber ich fand genug, mit dem ich weitermachen konnte. Mir gelang es auch, die Adresse meiner brünetten Recherchepartnerin herauszufinden, und die genauen Zeiten, zu denen ich sie besuchen konnte: Trotz ihres bohemehaften Aufzugs trug sie einen Ehering. Ich nahm an, ihr Mann war weder Bohemien noch aufgeschlossen.
Sie ließ mich mit meinem Recherchematerial an einem Tisch zurück. Ich konzentrierte mich auf ein Ereignis und verbrachte zwei Stunden damit, Zeitungsmeldungen und offizielle Berichte über die Katastrophe durchzugehen. Am meisten interessierten mich allerdings die Verlustlisten und die Dienstlisten. Schließlich fand ich, wonach ich suchte: Alain Barnier war Oberleutnant zur See an Bord der Maillé Brézé gewesen. Das erklärte die Verbundenheit des Franzosen mit diesem Teil der Welt. Und auch seine Besuche am Denkmal auf dem Lyle Hill.
Doch Barniers Name auf der Seite ließ mehr unerklärt als erklärt.
Ich kämpfte mich durch die alten Ausgaben des Greenock Telegraph, die sich mit den Anfangsjahren des Krieges befassten. Während des Krieges waren in der Gegend viele französische Seeleute stationiert gewesen, und ich überflog jeden Artikel, in dem die französischen Streitkräfte erwähnt wurden. Zumeist waren es die üblichen patriotischen Beiträge à la »Vergesst Napoleon, wir sind jetzt dicke Kumpel«. Die Schotten besaßen ohnehin ein anderes Verhältnis zu den Franzosen als die Engländer: Einmal hatte die Auld Alliance bestanden, das alte Bündnis zwischen Frankreich, Schottland und Norwegen, das dem Vereinigungsgesetz vorausgegangen war und dem die Schotten eine große romantische Verbundenheit entgegenbrachten. Das Verhältnis zwischen den französischen Seeleuten und den Einheimischen war im Allgemeinen gut gewesen. Auf jeden Fall wurde in der Presse zu Kriegszeiten nichts Gegenteiliges behauptet.
Doch in den Gerichtsakten fand ich etwas Auffälliges. Drei Greenocker Hafenarbeiter, die wegen ihres Berufs vom Militärdienst freigestellt waren, hatten wegen Ruhestörung, Körperverletzung und Widerstand gegen die Staatsgewalt vor dem städtischen Gericht erscheinen müssen. Offenbar waren die drei in eine Prügelei innerhalb der Stadt verwickelt gewesen. Die Ortspolizei und Militärpolizisten der Gendarmerie Maritime hatten eine ausgedehnte Schlägerei beenden müssen, die sich von einer Greenocker Bar aus auf die Straßen ausgebreitet hatte. Das Datum fiel ins Auge: 5. Juli 1940 – zwei Tage, nachdem die britische Royal Navy die französische Flotte bei Mersel-Kébir angegriffen hatte, um zu verhindern, dass die Schiffe in deutsche Hände fielen. Zwei Schiffe waren versenkt und fast dreizehnhundert französische Seeleute getötet worden. Der Angriff hatte zu einem diplomatischen Desaster geführt, und die Franzosen hatten sich ernsthafte Gedanken gemacht, wer sich da eigentlich als ihr Freund ausgab ...
Man brauchte nicht besonders versiert im logischen Denken zu sein, um zu dem Ergebnis zu kommen, dass die Stimmung gereizt gewesen sein musste und irgendein Großmaul etwas gesagt hatte, das einen Kampf zwischen den französischen Seeleuten und den Einheimischen vom Zaun gebrochen hatte. Natürlich musste es so nicht sein. In Westschottland benötigte man keinen großartigen Grund, um eine Prügelei zu beginnen, und wenn man bedachte, wie viele einheimische Mädchen sich den Beinamen »Matrosenmatratze« erworben hatten, standen den Kampfeslustigen stets die guten alten Mittel der sexuellen Eifersucht und des Alkohols zu Gebote.
Ich wollte gerade weiterblättern, als ein Blick auf die Aussage eines Zeugen mich auf den Bericht zurückbrachte. Eine Gruppe französischer Seeleute war von einem Pöbelhaufen Einheimischer umzingelt worden. Die Franzosen wurden von städtischen Polizisten und einem Kommando aus Marinegendarmen und Fusiliers Marins , französischen Marineinfanteristen, befreit. Der Zeuge schilderte, dass einige dieser Franzosen »irgendeine komische Fußkampftechnik« eingesetzt hätten, um die Menge zurückzudrängen.
Ich fragte meine Bibliothekarin, ob sie mir den Bericht fotokopieren könne, und nach ein wenig sanfter Überzeugung und einer Menge Lennox’schem Charme willigte sie ein. Ich müsste jedoch für die Materialkosten aufkommen und mir die Abzüge später persönlich abholen.
***
Wir hatten nun beinahe Mittag, und ich unternahm meinen täglichen Ausflug
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