Lennox 03 - Der dunkle Schlaf
schlechtes Gefühl. Die Sorte schlechtes Gefühl, wenn der Mann der Frau, mit der man rumgemacht hat, auf die Lippenstiftspur starrt, die man am Hemdkragen hat.
McNab hob das Telefon ab und tippte auf die Gabel, dann seufzte er und verließ wortlos den Raum. Ferguson sah mich an und zuckte mit den Schultern.
McNab kam wieder herein und setzte sich. Er starrte unentwegt auf die Fotografie.
»Was gibt es, Superintendent?«, fragte Jock.
»Ich habe Jimmy Duncan aus dem Archiv gebeten, zu uns zu kommen. Er arbeitet halbtags dort, aber bis vor drei Jahren war er bei der Truppe. Als ich zur Probe anfing, war er Vertrauensbeamter. In ganz Glasgow gibt es kein Gesicht, das er nicht kennt.«
Fünf Minuten lang saßen wir in erwartungsvollem Schweigen da, dann kam ein kräftig gebauter Mann in Hemdsärmeln mit einer hässlichen horngefassten Kassenbrille und einem wilden weißen Haarschopf herein. Er ging zwar auf die sechzig zu, aber er sah aus wie jemand, mit dem man sich besser nicht anlegte.
»Was gibt’s denn, Willie?«, fragte der pensionierte Beamte, der jetzt im Archiv arbeitete, als wäre der Superintendent noch immer ein Neuling.
»Wir haben keine Fotografien von Joseph Strachan, oder? Aber du hast ihn doch mal gesehen, von Angesicht zu Angesicht?«
»Ja, Willie, das hab ich, aber das ist dreißig Jahre her, und ich hab nicht mit ihm geredet oder so was …«
McNab reichte ihm das Bild. »Ist das Joseph Strachan? Oder könnte es Joseph Strachan heute sein?«
Duncan sah sich das Bild sehr lange an.
»Ich weiß es nicht, Willie … ich kann es wirklich nicht sagen. Das ist wirklich kein gutes Bild, und die Leute verändern sich sehr in zwanzig Jahren.«
»Mir wurde gesagt, der Mann auf dem Bild heiße Henry Williamson«, sagte ich. »Haben Sie den Namen schon einmal gehört?«
Duncan sah mich an, als redete ich Albanisch, dann bedeutete ihm McNab durch ein Nicken, dass es in Ordnung wäre, wenn er antwortete.
»Nee …« Er schüttelte nachdenklich den Kopf. »Kann ich nicht behaupten. Nicht, soweit es die Akten angeht.«
»Wie meinen Sie das?«
»Na ja, da gab es einen Henry Williamson, der mit uns zu tun hatte, gleich als der Krieg losging. Er gehörte zur Home Guard.« Er sah wieder auf das Bild. »Trotzdem könnte ich nicht sagen, ob er das ist. Ich hab ihn auch nur im Vorbeigehen gesehen. Ich musste Chief Superintendent Harrison nach Edinburgh fahren, wegen einer Konferenz über den Heimatschutz. Drüben in Craigiehall … Sie wissen schon, der Heeres-Kommandantur.«
»Home Guard, sagen Sie?«, warf Jock Ferguson ein. Er blickte von seiner Teetasse nicht auf, und ich merkte, dass er seine Frage hinter einer beiläufigen Miene verbarg. Ich hoffte nur, McNab hatte sie nicht genauso mühelos durchschaut wie ich.
»Aye, so ist es«, sagte Duncan. »Chief Superintendent Harrison war der Verbindungsmann zur Home Guard. Natürlich war er damals bloß ein Inspector.«
Ferguson sah mich fast ausdruckslos an. Ich verstand dennoch, was er meinte. An dem Morgen, an dem ich im Nebel überfallen worden war, hatte der Kreis der Verdächtigen, die von meinem Interesse an Strachan wussten, lediglich aus Willie Sneddon bestanden, dem wahrscheinlich kein Wort davon über die Lippen gekommen war – und den Polizeibeamten, bei denen Jock Ferguson sich beiläufig erkundigt hatte.
Von denen einer, das hatte Jock mir gesagt, Chief Superintendent Edward Harrison gewesen war.
14
Als ich am Morgen meine Bleibe verließ, stieß ich mit Fiona White zusammen, die aus ihrer Erdgeschosswohnung kam. Wir kollidierten auf eine Weise, die mir den deutlichen Eindruck vermittelte, dass sie mit dem Herauskommen gewartet hatte, bis sie meine Schritte auf der Treppe hörte.
Das Gespräch war kurz und erbärmlich. Ich war noch immer durcheinander wegen ihr und des plötzlichen Auftauchens des Bruders ihres toten Mannes – oder dessen Ersatzmann oder was immer er war. Sie versuchte etwas zu formulieren, das sie nicht vollständig durchdacht hatte: Worte der Beruhigung, vermute ich, aber wir hatten beide den Boden unter den Füßen verloren. Immerhin war alles, was bis dahin zwischen uns vorgefallen war, unausgesprochen, sieht man von meinen Monologen im letzten Jahr einmal ab. Und die hatten vor allem anderen noch mehr formalisiert, was zwischen uns war. Sie erklärte mir, James sei als Onkel nur besorgt um das Wohlergehen seiner Nichten, und mehr sei nicht zu sagen. Ich erwiderte, dass mich das eigentlich gar nichts angehe, und
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