Lennox 03 - Der dunkle Schlaf
voller Rätsel, aber er ist in Gorbals geboren, und für Rätsel und Geheimnisse ist kein Platz, wenn man mit vier Familien pro Etage in so eine Scheißmietskaserne gezwängt ist. Strachan hatte zwei Schwestern und einen Bruder. Keinen Zwilling. Ich sage Ihnen, ich habe Gentleman Joe Strachan in Lebensgröße und doppelt so hässlich aus nächster Nähe vor mir gesehen, wie er bei einem Haufen hoher Tiere herumscharwenzelte und Kronen auf den Achselstücken trug.«
»Wann war das?«
»’42. Sommer ’42.«
»Haben Sie sonst noch jemandem davon erzählt?«
Dunbar sah mich verächtlich an. »Nach der Abreibung, die ich in einer Polizeizelle bekam, nur weil die dachten, es gäbe auch nur eine klitzekleine beschissene Chance, dass ich etwas wissen oder jemanden kennen könnte, der sie zu jemand anderem führen könnte, der vielleicht mehr über Joe Strachan wissen könnte? Nee … Ich hab die Schnauze gehalten. Niemand weiß, was ich gesehen hab. Außer Ihnen jetzt natürlich.«
Damit stand es fest: Gentleman Joe hatte doch nicht den tiefen, dunklen Schlaf geschlafen. Das bedeutete natürlich noch lange nicht, dass er noch lebte. Wenn er zu den Special Operations gehört hatte, dann konnte er den tiefen, dunklen Schlaf auf dem Grund eines Kanals in Holland oder eines Flusses in Frankreich schlafen. Aber selbst dieser Gedanke – Joe Strachan als Offizier beim SOE – ergab nicht den geringsten Sinn.
Dunbar hatte uns gesagt, was er uns zu sagen hatte, und beiläufiges Geplauder, sogar mit Kraftausdrücken durchsetztes beiläufiges Geplauder, war einfach nicht seine Stärke, daher war es Zeit für uns zu gehen. Als ich aufstand, kam mir aus dem Nichts ein Gedanke, oder zumindest von irgendwo weit hinten in meinem Kopf, wo er während des Gesprächs mit Dunbar langsam Gestalt angenommen haben musste. Tatsächlich war es mehr ein Bild als ein Gedanke. Aus irgendeinem Grund kam mir die Fotografie, die ich Paul Downey abgenommen hatte, in den Sinn.
»Sind Sie die meisten Abende hier, Billy?«, fragte ich. »Ich würde Ihnen gern eine Fotografie zeigen. Ich glaube, nach allem, was Sie mir gerade gesagt haben, besteht eine gute Chance, dass es das einzige existierende Bild von Joe Strachan zeigt. Kann ich noch mal wiederkommen und es Ihnen zeigen?«
»Aye … ich denke, schon«, antwortete Dunbar widerwillig. »Aber an meinem freien Abend gehe ich normalerweise in die Kneipe.«
»Ich komme auch erst in ein oder zwei Tagen wieder, und es dauert nur ein paar Minuten, Billy«, sagte ich. »Und es soll Ihr Schaden nicht sein. Ach, und noch etwas, ehe wir gehen. Es hat nichts mit Strachan zu tun, ich bin nur neugierig wegen etwas anderem, womit ich neulich zu tun hatte. Sie kennen den Sohn des Herzogs, Iain?«
»Aye, den kenn ich gut.«
»Was ist er für ein Mensch?«
»Er ist ein Fliegenschiss. Ganz anders als sein Vater. Völlig. Beschissener Tunichtgut.«
»Und?«
»Und was?«
»Kommen Sie, Billy, wir wissen beide, er ist eine Fummeltrine.«
»Jetzt passen Sie mal gut auf! Ich werde nichts sagen, was seinem Vater schaden könnte. Seine Hoheit hat auch so schon Gott weiß genug Kummer mit dem kleinen Mistkerl. Egal, auf welchen Dreck Sie aus sind, hier kriegen Sie das nicht!«
»Schon gut, Billy, aber sagen Sie mir, was Sie können. Ob Sie es glauben oder nicht, ich versuche, den Namen der Familie zu schützen, nicht zu beschädigen.«
»Iain ist so anders als sein Vater, dass man sich manchmal fragt, ob Seine Hoheit überhaupt mit ihm verwandt ist. Sie sehen sich nicht ähnlich, sie benehmen sich völlig unterschiedlich, sie haben nicht die gleichen Wertvorstellungen …«
»Bei allem Respekt, Billy, Sie sind hier nur Wildhüter … woher wissen Sie das alles?«
»Jeder weiß das. Jeder weiß hier alles über jeden anderen. Wenn Sie für so eine Familie arbeiten, auf so einem Gut, dann gibt es keine beschissenen Geheimnisse.«
»Iain hat ein Gartenhaus auf dem Gut, ist das richtig?«
»Aye, er nennt das sein Studio , der kleine Wichser. Er hält sich für den zweiten Picasso oder so eine Scheiße.«
»Und er empfängt dort Gäste?«
»Aye.« Dunbar sah mich wissend an. »Dort empfängt er, allerdings.«
»Haben Sie schon mal jemandem am Gartenhaus gesehen, der Ihnen seltsam vorkam?«
»Das soll wohl ein Scherz sein! Wann hätte ich da keine komischen Gestalten rumlaufen sehen? Da gibt es immer schräge Vögel und Verrückte. Die Künstlergemeinde , nennt Iain sie. Künstler, leck mich am
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