Lenz, Siegfried
den Magen, aus den Samen wird nämlich Vogelleim gemacht, aber wir wissen ja, du hast einen Drosselmagen. Freundlich sieht er mich an, freundlich und neugierig, als ob gleich wer weiß was in mir passieren könnte, aber die Beere backt noch im Hals. Komisch, sagt er, die Vögel verbreiten das Zeug, mit dem sie gefangen werden, sie streifen den Rest des klebrigen Fruchtfleisches an den Zweigen ab, oder sie bekleckern die Äste und legen so die Samen für neue Misteln, vor allem die Drossel. Es gibt einen alten Spruch: Die Drossel kackt sich ihr eigenes Unglück. Jetzt ist die Beere runtergerutscht, mit viel Spucke, jetzt ist es geschafft. Bei der Drossel, sagt der Chef, braucht der Samen nur eine halbe Stunde, um durch den Körper zu wandern. Es schmeckt süßlich, sage ich. Ja, Bruno, süßlich, aber die Mistelgewächse, das sind schlimme Parasiten, wenn sie deine Birnbäume erreichen, Walnuß- und Birnbäume, dann ist der Wirt in Gefahr.
Wieder sieht er über die Schienen und das Land hinweg zum Kollerhof. Er hat deine Birnbäume gesagt, er meint schon meinen Walnußbaum, also trifft es zu. Da drüben, Bruno, auf dem Kollerhof, da waren wir doch mal ganz glücklich, oder was meinst du? Ich weiß gar nicht, was ich jetzt sagen soll. Ich nicke einfach und schaue mit ihm nach drüben, wo wir einmal ganz glücklich waren, und er fragt nicht weiter, er ist wohl zufrieden. Weißt du auch noch, wie der Alte hieß, der mit seinen Schlingen und Tellereisen und dem ausgestopften Iltis? Ja, er hieß Magnussen. So ist es: Magnussen, und ich glaube, daß er dort glücklich war, weil niemand was von ihm wollte und er nichts von den andern.
Das sind die ersten, eine Vorhut der Krähen, die von der großen Müllgrube heranschwingen, nun haben sie uns entdeckt und drehen ab, krächzen und drehen ab, einige haben ausgefranste Schwingen, als ob sie schon getroffen wurden, von Kugeln, von Schrot getroffen; gleich werden sie den großen Schwarm warnen und ihn umlenken zum Pappelweg. Nicht die Saatkrähen, die Raben sind ein schlimmes Zeichen, aber es gibt nur noch wenige, hierher hat sich noch keiner verirrt. Ich spüre genau, daß er etwas sagen möchte, vielleicht sucht er nach einem Anfang, jetzt aber ist ihm etwas eingefallen, er streckt sich, beklopft und durchfingert die Außentasche seiner Joppe, spreizt die kleine Westentasche, und da hat er es, er schließt es in seine Faust ein und will meine Hand: Gib mal deine Hand, Bruno. Es ist warm und rund und schwer. Eicheln, es sind zwei silberne Eicheln, die an einem silbernen Kettchen hängen, sie sind massiv und klicken, wenn sie aufeinandertreffen. Die sind aber schön, sage ich. Das kleine Plättchen zwischen ihnen ist beschriftet: »Von Ina zum zwölften Zwölften«, die Nummer auf der Rückseite ist zu klein, ich kann sie nicht lesen. Behalt sie, sagt er, steck sie ein, damit du etwas hast, was dich an mich erinnert. Aber hier steht etwas, sage ich, eine Widmung. Ich weiß, Bruno, so hast du eben ein bißchen mehr zum Erinnern; das sind bestimmt die schönsten Eicheln, die es gibt.
Maxens Stimme, sie ist dicht hinter uns, er hat uns gewiß eine Weile beobachtet, hinter der Thujahecke gelauert und gelauscht. Hier also seid ihr, sagt er laut, vielleicht ist er sogar mir gefolgt, während ich dem Chef gefolgt bin, hart tritt er auf und sagt noch einmal: Hier also seid ihr. Er will sich nicht setzen, so, wie er dasteht, möchte er nur etwas melden, sein schneller, taxierender Blick will alles wissen, sein mißtrauischer Blick, den auch sein Lächeln nicht aufhebt. Die Eicheln werden immer wärmer in meiner Hand, die silbernen Eicheln, sie fangen an zu brennen, am liebsten möchte ich sie dem Chef zurückgeben, aber wie soll ich das machen, da er nicht aufgestanden ist? Er hat sich abgewendet und guckt über die Schienen zum Hollenhusener Bahnhof, Max ist gar nicht da für ihn, nicht einmal umgedreht hat sich der Chef nach ihm. Bald wird der Zug abfahren. Herr Murwitz ist gekommen, sagt Max.
Der Chef hat ihn wohl nicht verstanden; ohne sich zu rühren, starrt er zum Zug hinüber, wo einige Leute rennen und Sachen schleppen und der Mann mit der Kelle schon ein paar Türen zuwirft. Herr Murwitz wartet auf dich, sagt Max. Er bückt sich, will das Gewehr aufheben, der Chef merkt es sofort und legt eine Hand auf den Lauf, ihm entgeht nichts, er bekommt sogar mit, was hinter seinem Rücken passiert. Der Zug fährt an, passiert die niedergelassene Schranke, vor der einige Radfahrer
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