Leo Berlin
Leo trocken. »Sie erinnern mich jeden Tag daran. Und wenn
man einen Mitarbeiter wie von Malchow hat, kann man die Arbeit gleich
allein machen.«
Sie hob beschwichtigend die
Hand. »Ich weiß, aber . . . wenn Sie ehrlich sind, ist es auch
nicht leicht, mit Ihnen auszukommen.«
Er sah sie überrascht
an. »Wieso? Sie kommen doch auch mit mir aus.«
»Darüber wundere
ich mich jeden Tag.«
»So frech heute?«,
fragte er grinsend. »Wissen Sie, warum ich mit Ihnen auskomme?«
»Weil ich nicht der
Sohn eines pommerschen Gutsbesitzers bin, der nur aus Spaß zur
Polizei gegangen ist und eigentlich sein Leben mit Forellenfischen auf dem
elterlichen Anwesen zubringen könnte«, lautete die
schlagfertige Antwort.
»Genau«, sagte
Leo Wechsler. »Mit Ihrer Beobachtungsgabe sollten Sie Detektivin
werden.«
»Um in Warenhäusern
Frauen aufzulauern, die drei Schichten Unterwäsche tragen? Nein
danke, da sitze ich lieber vor meiner Schreibmaschine und tippe Ihre
Berichte«, sagte sie lächelnd und griff in ihre Rocktasche.
»Nehmen Sie die mit, wenn Sie nach Hause gehen.« Sie hielt ihm
zwei Zuckerstangen hin.
Er öffnete den Mund,
schloss ihn wieder und steckte die Süßigkeiten ein. Beinahe hätte
er gesagt, die kann ich selber kaufen. Verdammt, warum glaubte er ständig,
dass alle ihn mitleidig anschauten und sich nur für die Tatsache
interessierten, dass Kommissar Wechsler verwitweter Vater von zwei Kindern
war?
Energisch schlug er den
Aktenordner zu und schob ihn zur äußersten Ecke des
Schreibtischs. »Sie haben Recht, ich mache Schluss für heute.
Und danke für die Zuckerstangen. Wer weiß, wie viel die demnächst
kosten.« Er zog sein Portemonnaie heraus. »Sehen Sie sich das
mal an. Geht kaum noch zu bei den vielen Scheinen. Letztens habe ich
gesehen, wie bei Wertheim jemand mit einem Zehntausendmarkschein bezahlt
hat.«
Ursula Meinelt betrachtete
die Geldscheine in Leos Hand und schüttelte den Kopf. »Ich
verstehe nicht, wohin das noch führen soll. Wie kommt es, dass unser
Geld immer weniger wert ist?«
»Weil man im Krieg so
viel davon gedruckt hat, als wäre es Spielgeld«, antwortete Leo
und hängte sich den leichten Sommermantel über den Arm. »Und
jetzt sitzen wir in der Achterbahn und wissen nicht, wohin sie fährt.
Schönen Abend noch.«
Mit diesen Worten verließ
er das Büro.
Als er draußen auf dem
Alexanderplatz vor dem Präsidium stand, das im Polizeijargon gern
»Fabrik« genannt wurde, atmete er erst einmal auf. Es war halb
sieben und taghell, der längste Tag des Jahres nicht mehr fern. Er
beschloss, ein Stück Unter den Linden entlangzugehen, bevor er die
Elektrische nach Moabit nahm.
Menschen in sommerlicher
Kleidung schlenderten über den Boulevard. Von einem Zeitungskiosk
sprang ihn das Wort »Blausäure« an. Leo blieb kurz stehen
und las die ersten Zeilen.
»Am gestrigen
Pfingstsonntag verübten bisher Unbekannte ein Blausäure-Attentat
auf den Politiker Philipp Scheidemann (SPD). Er soll dem Vernehmen nach
schwere Verletzungen erlitten haben.«
Leo Wechsler schüttelte
den Kopf. Manchmal kam es ihm vor, als wäre die Welt verrückt
geworden. Als hätte sie acht Jahre zuvor den Verstand verloren und
ihn nie wiedergefunden. Zuerst der lange Krieg, dann Revolution und Straßenkämpfe,
Hunger, Unsicherheit und . . . Er zuckte zusammen, als ihn die Erinnerung
an Dorotheas Tod überfiel. Sie war im Januar 1919 gestorben, die
Spanische Grippe war schon beinahe abgeflaut. Als hätte die tückische
Krankheit gewartet, bis Marie geboren war, und Dorothea dann umso heftiger
gepackt.
Zuweilen ertappte er sich
dabei, dass er etwas zu ihr sagen oder sie berühren wollte und erst
dann merkte, dass sie nicht mehr da war. Vielleicht hatte er sich zu wenig
Zeit gelassen nach ihrem Tod, alles möglichst schnell vergessen
wollen. Andererseits erinnerten ihn seine Kinder jeden Tag an Dorothea,
und er genoss immer wieder die mit Schmerz vermischte Freude, die sie ihm
bereiteten. Wenn Marie eine kluge Frage stellte oder Georg eine gute Note
mit nach Hause brachte, dachte Leo, dass er Dorotheas letzte Bitte, gut für
die Kinder zu sorgen, wohl doch erfüllt hatte.
Er klopfte auf die
Zuckerstangen in seiner Manteltasche, blieb einen Augenblick stehen und
schaute nach oben in die grünen Baumwipfel der Mittelpromenade.
Eigentlich war es kein Abend zum Nachhausegehen.
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