Leo Berlin
ihren Gemütszustand deutete und ihnen
neue Wege aufzeigte.
Da klingelte es an der Tür.
Sartorius warf einen Blick auf seinen Terminkalender, doch Ellen Cramer
war an diesem Nachmittag als letzte Patientin eingetragen. Seltsam. Er
legte die Trauben neben die Schale und ging zur Tür.
Manche Patienten wunderten
sich, dass er sie persönlich an der Tür empfing, doch ein Hausmädchen
hätte ihn nur gestört. Erst abends kam eine Frau, die den
Haushalt besorgte und für ihn kochte, wenn er nicht auswärts aß.
Auch heute war er zu einer Gesellschaft bei einem wichtigen Patienten
eingeladen und er ärgerte sich, dass noch jemand kam, da er
eigentlich ein Bad nehmen und sich in Ruhe umziehen wollte.
Er führte seinen Gast
ins Behandlungszimmer. »Ich hatte nicht mit Ihnen gerechnet, es ist
so lange her. Ein Anruf wäre ratsam gewesen, dann hätte ich mir
mehr Zeit für Sie nehmen können.«
»Ich werde Sie nicht
lange aufhalten, Herr Sartorius.« Die rechte Hand in dem eleganten
Wildlederhandschuh zitterte leicht.
Als Leo Wechsler die
baumbestandene Emdener Straße in Moabit erreichte, in der er seit
seiner Heirat wohnte, klebte ihm das Hemd am Körper. Die Straßenbahn
war übervoll gewesen, und er war eine Haltestelle früher
ausgestiegen, doch der Fußmarsch hatte ihn nicht erfrischt. Es war
einfach zu warm.
Er nickte dem Wirt der
Eckkneipe zu, mit dem er gelegentlich eine Weiße trank, und ging in
Gedanken versunken weiter. Dann hörte er eine vertraute Stimme,
nackte Kinderfüße patschten auf ihn zu, und seine Tochter Marie
sprang so heftig an ihm hoch, dass sie ihn beinahe umgeworfen hätte.
»Vati, da bist du ja endlich. Tante Ilse hat gesagt, du kaufst mir
bestimmt ein Eis. Kann ich ein Eis haben, bitte?«
Er küsste seine Tochter
auf die Nasenspitze, umschlang mit dem rechten Arm ihre Taille und stellte
sie auf den Boden. Sie reichte ihm inzwischen fast bis zur Hüfte,
dabei kam es ihm vor, als hätte er sie erst gestern als winziges Bündel
im Arm gehalten. »Ich glaube kaum, dass Tante Ilse das gesagt hat.
Aber, Moment mal, was ist denn das hier in meiner Manteltasche?« Er
tat geheimnisvoll, bevor er eine von Fräulein Meinelts Zuckerstangen
hervorzauberte.
Marie griff mit strahlenden
Augen nach der Stange, riss das Papier ab und steckte sie zufrieden in den
Mund. Sie lutschte hingebungsvoll, hielt dann aber inne. »Hast du
auch eine für Georg?«, fragte sie besorgt.
Leo wurde es heiß in
der Brust. Seine Tochter. »Ja, natürlich, Liebes. Wo steckt er
eigentlich?«
Marie zeigte die Straße
hinunter. »Im Hof von Nr. 56. Mit den Jungs vom Hufschmied. Die
suchen bestimmt wieder Kippen.«
Leo runzelte die Stirn.
Manchmal bereute er, dass sie hier wohnen geblieben waren, nur weil er in
dieser Gegend aufgewachsen war. Sentimentalität, dachte er dann.
Vielleicht wären seine Kinder woanders besser aufgehoben. Einerseits
wusste er, dass auch die Straße eine Schule war, in der man Dinge
lernen konnte, die in keinem Buch standen. Aber Kippen sammeln, Tabak
herauspulen und verkaufen ging dann doch zu weit.
»Hol Georg! Wir wollen
essen«, sagte Leo und blieb vor der Haustür stehen.
Marie rannte los, bog ein
paar Häuser weiter in die Toreinfahrt und kam kurz darauf mit ihrem
achtjährigen Bruder wieder, der nur ein abgetragenes Hemd und kurze
Hosen anhatte. »Hallo, Vati«, sagte er. Leo fuhr ihm durchs
Haar.
»Ich mache keine große
Sache draus, aber das mit den Kippen lässt du in Zukunft bleiben.«
Sein Sohn schaute ihn
schuldbewusst an. »Na ja, wir haben gedacht, wir verdienen uns was
dazu. Sind doch schlechte Zeiten, Vati.«
Wie sollte er da hart
bleiben? Seufzend schloss Leo die Haustür auf und trat in den
wohltuend kühlen Flur. Das schlichte Treppenhaus war hell und sauber,
die Holztreppe blank gebohnert, die rot-weißen Fliesen frisch
gescheuert, und es roch nie nach abgestandenem Essen oder muffiger Wäsche
wie in den Hinterhäusern. Seltsam, wie eng diese Welten beieinander
lagen. Er kannte die Hinterhäuser, hatte dort oft genug Ermittlungen
durchgeführt und war immer wieder betroffen von dem Elend, das in
ihnen herrschte.
Dabei gehörte diese
Gegend im Westen Berlins noch nicht zu den schlimmsten. Er kannte
Mietskasernen im Norden und Osten, die an wimmelnde Bienenkörbe
erinnerten, nicht an menschliche Behausungen. Im ersten Stock blieb er vor
der
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