Leo Berlin
linken Tür stehen und fragte seine Kinder leise: »Wie ist
die Lage?«
»Leicht bewölkt,
aber trocken«, meinte Georg grinsend im geheimen Kode, der die
jeweilige Stimmung seiner Tante bezeichnete.
Sein Vater grinste zurück
und schloss die Wohnungstür auf. Aus der Küche drang der Geruch
von frischen Pellkartoffeln, und er spürte plötzlich seinen
Magen. Bei der Arbeit vergaß er gelegentlich das Essen.
»Bist du das, Leo?«,
rief seine Schwester aus der Küche. »Hast du die Kinder
mitgebracht? Wer weiß, wo die sich wieder rumtreiben.«
»Keine Sorge, Ilse.«
Er ging in die Küche und legte seiner Schwester die Hand auf die
Schulter. Sie war kleiner als er, hatte aber seine dunklen Haare und die
gleichen blaugrünen Augen. Obwohl sie nur zwei Jahre älter war,
wirkte ihr Gesicht matt, resigniert und vorzeitig gealtert. Er spürte
die Spannung, die sich nie ganz gelegt hatte, seit Ilse vor über drei
Jahren zu ihnen gezogen war. Nach Dorotheas Tod hatte sie ihm angeboten,
sich um die Kinder zu kümmern, doch insgeheim vermutete er, dass es
eher aus Pflichtgefühl geschehen war und Ilse nun fürchtete, das
Leben laufe an ihr vorbei.
»Die Erdbeeren sehen
wunderbar aus«, sagte er und biss in eine leuchtend rote Frucht.
»Schmecken nach Sommer.«
Sie lächelte verhalten.
»Das war ein Glücksfall. Ein Bauer hielt mit seinem Karren
genau vor der Tür, da konnte ich nicht nein sagen. Die Kinder haben
so gebettelt.«
»Danke.« Er
strich ihr leicht über den nackten Oberarm, eine scheue Geste, mit
der er seinen Dank besser als mit Worten ausdrücken konnte. »Georg
war wieder mit Pollacks Söhnen zusammen. Haben Kippen gesammelt.
Vielleicht sollte ich ihm ein bisschen Taschengeld geben.«
Ilse streute etwas Zucker
über die klein geschnittenen Erdbeeren und rührte vorsichtig um,
damit sie Saft zogen. »Ach, übertreib’s mal nicht, Leo.
Wer weiß, wer es ihm wegnimmt.«
»Du bist misstrauischer
als die Polizei«, meinte Leo ironisch. »Siehst in allen Leuten
nur das Schlechte.«
Ilse lachte, aber das Lachen
erreichte ihre Augen nicht. »Wenn du öfter hier wärst, wüsstest
du, was in den Hinterhöfen passiert. Georg hat erzählt, dass sie
einem Mitschüler auf dem Heimweg die gute Jacke gestohlen haben.«
»Wer schickt denn in
solchen Zeiten sein Kind mit einer guten Jacke in die Schule? Und davon
abgesehen – was glaubst du, mit wem ich es tagsüber zu tun
habe? Mit der Heilsarmee?«
Manchmal kam ihm das Leben
mit ihr vor wie eine alte, abgenutzte Ehe. Sie kannten sich, kamen
halbwegs miteinander aus, doch es gab keine echte Zuneigung. Ob er überhaupt
noch dazu fähig war?
Seufzend setzte er sich an
den Tisch und goss sich ein Glas Wasser ein.
»Ansonsten alles in
Ordnung? Hat Georg seine Hausaufgaben gemacht?«
»Ja, alles bestens.«
Ilse zögerte und sah ihn unschlüssig an.
»Was ist denn?«
»Na ja, ich weiß
nicht, ob es wichtig ist, aber . . . Er hat gesagt, dass ein Junge aus
seiner Klasse komische Sachen erzählt.«
»Was für komische
Sachen?«
»Dass lauter Verbrecher
an der Regierung sind. Und dass vor dem Krieg, als wir noch den Kaiser
hatten, alles besser war.«
»Ach, Ilse, das ist
doch das übliche Gewäsch, das kann er in jeder Zeitung lesen.
Warum soll ich mir darüber Sorgen machen?«
»Er hat auch erzählt,
dass dieser Junge einen Klassenkameraden verprügelt hat, weil er
nicht vor ihm salutieren wollte.«
Leo schaute hoch. »Wie
bitte?«
»Der Junge hat wohl
behauptet, der Vater des anderen sei ein Roter, der Deutschland verraten
habe.«
Leo seufzte. »Wir sind
hier in Moabit, da gibt es Rote wie Sand am Meer.«
»Schon, aber der Schläger
war der Sohn vom Lehrer.«
»Was? Hat Scheller
schon wieder mit seinen Sprüchen angefangen?« Obwohl
kriegsverherrlichende Propaganda an den Schulen gesetzlich verboten worden
war, gab es noch viele treue Staatsdiener, die den Jungen Flausen in den
Kopf setzten und vom Tod fürs Vaterland schwärmten. Ludwig
Scheller war ein Hetzer der übelsten Sorte, und Leo war mehr als
einmal mit ihm aneinander geraten. Zurzeit herrschte zwischen ihm und dem
Lehrer eine Art Waffenstillstand. »Wenn es so weitergeht, muss ich
wohl noch mal mit ihm reden.« Er trank einen Schluck Wasser. »Hast
du gehört? Man wollte Scheidemann mit Blausäure töten. Weißt
du noch, wie er damals am Fenster
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