Leo Berlin
Solche Abende sollte man
lieber in einem Schankgarten verbringen, natürlich nicht allein, ein
bisschen tanzen, sich den Kopf verdrehen lassen. Einfach drauflosleben.
Das hatte er schon lange nicht mehr getan.
Leo schüttelte den Kopf,
wie um sich aus seinen Träumereien zu reißen, und ging zur nächsten
Straßenbahnhaltestelle.
Gabriel Sartorius beugte sich
über den Tisch. Er starrte die glattgeschliffenen Halbedelsteine an,
die in einem nur ihm bekannten Muster auf der unbearbeiteten Holzplatte
angeordnet waren. Er spürte, wie die Kraft der Steine in seine Finger
strömte, seinen ganzen Körper durchdrang. Sie verlieh ihm übermenschliche
Energien, mit denen er die Frau auf dem Diwan von ihrem Leiden heilen würde.
Ellen Cramer lag ganz still
auf dem Diwan, die Augen geschlossen, die Arme neben sich ausgestreckt.
Sie vertraute Gabriel Sartorius blind. Er behandelte sie seit einigen
Wochen wegen ihrer schweren Migräneanfälle, und sie meinte schon
eine gewisse Erleichterung zu verspüren. Nachdem sie von einem
angesehenen Berliner Arzt zum anderen gelaufen war, ohne die quälenden,
von Sehstörungen und Übelkeit begleiteten Schmerzen loszuwerden,
hatte sie sich zu diesem ungewöhnlichen Schritt entschlossen.
Eine Freundin hatte sie auf
den Wunderheiler aufmerksam gemacht. Zunächst war Ellen skeptisch
gewesen, und ihr Mann wusste bis heute nichts von diesen Besuchen, da er
alles ablehnte, dem nicht mit Rechenschieber und Kontenbüchern
beizukommen war. Doch er musste auch nie davon erfahren. Sie besaß
selbst genügend Geld, um die Honorare des Heilers zu bezahlen.
In Berlin waren Hellseher und
Hypnotiseure zurzeit groß in Mode. Man munkelte, dass sogar die
Polizei gelegentlich ihre Dienste in Anspruch nahm, um schwierige Fälle
aufzuklären.
Sartorius schien sich
allerdings nicht als Modedoktor, sondern als Berufener zu empfinden, der
auserwählt war, die Leiden der Menschheit zu lindern. Sein wallendes,
schulterlanges Haar und die orientalischen Gewänder, in die er sich
zu hüllen pflegte, erinnerten an Christus-Gemälde der
Renaissance. Er sprach mit sanfter Stimme und verströmte eine
Gelassenheit, die Ellen gleich beim ersten Besuch die Angst genommen
hatte.
Jetzt spürte sie seine Hände,
die beruhigend über ihre Schläfen strichen, über die Stirn
fuhren, sich sacht auf ihre Augen legten und wieder zu den Schläfen
wanderten.
»Ich übertrage
jetzt die Kraft der Steine auf Sie«, hörte sie ihn sagen.
»Amethyst gegen die Schmerzen. Karneol für besseres Blut.
Diamant für klare Erkenntnis. Hämatit für mehr
Lebendigkeit. Opal für mehr Lebensfreude. Brauner Chalcedon für
Herzenskraft.«
Sie überließ sich
ganz seinen Händen. Seine heilende Kraft umfloss wohltuend ihren
Kopf. Beinahe wäre sie eingeschlafen, doch dann klopfte er sanft
gegen ihre Wange. »Sie können die Augen öffnen. Die
heutige Sitzung ist beendet. Hören Sie auf meinen Rat: Viel Ruhe,
genießen Sie Ihr Leben. Überlassen Sie sich Ihrem inneren
Fluss, er wird Sie leiten.«
Ellen setzte sich auf und
schaute sich im Zimmer um, als hätte die Sitzung auch ihre Umgebung
verwandelt. Gedämpftes Licht, schwere Samtvorhänge, an den Wänden
eine Mischung aus christlichen, hinduistischen und buddhistischen Motiven,
die sie beim ersten Anblick ein wenig irritiert hatte, inzwischen aber
vertraut schien. Auf einem kleinen Intarsientisch befanden sich mehrere
Gegenstände, die zusammengewürfelt wirkten, dem Heiler aber viel
zu bedeuten schienen: ein Dolch mit wunderschön ziselierter Klinge,
ein Bild der heiligen Hildegard von Bingen, ein Buddha aus grüner
Jade.
Sie legte das Honorar dezent
neben den Dolch und verabschiedete sich von Sartorius. »Nächste
Woche um die gleiche Zeit?«, fragte er, als er sie zur Tür
begleitete.
»Gern. Vielen Dank.«
Er schloss die Tür
hinter ihr, nahm das Geld vom Tischchen und steckte es in die Tasche der
leichten Hose, die er unter seinem weiten Gewand trug. Dann ließ er
sich auf dem Diwan nieder und nahm eine Hand voll Weintrauben aus einer
Obstschale. Nach einer Sitzung brauchte er immer Nahrung, um neue Kraft zu
gewinnen. Es war anstrengend, den Edelsteinen als Medium zu dienen und
ihre heilende Wirkung auf seine Patienten zu übertragen, aber seine
wirksamste Therapie. Manchmal ließ er sie auch Szenarien aus den
Steinen legen, mit denen er
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