Leo Berlin
berücksichtigte. Da schwammen viele nasse
Fische, dachte Leo.
»Mit dem Mord an dem
Heiler Sartorius. Wir kommen im Augenblick nicht weiter.« Es kostete
ihn einige Überwindung, das zuzugeben, doch Gennat war für seine
anständige Art bekannt und würde es nicht weitertragen.
»Sie sind ein guter
Mann, Wechsler, aber zu ungeduldig«, meinte der zehn Jahre ältere
Gennat bedächtig. »Polizeiarbeit ist manchmal wie
Briefmarkensammeln. Sie dauert.«
»Ich weiß. Leider
gehört Briefmarkensammeln nicht zu meinen Steckenpferden.«
»Das merkt man. Und Sie
sollten immer klaren Kopf bewahren.« Er schaute Leo prüfend an.
»Besteht die Gefahr, dass der Täter erneut zuschlägt?«
Leo überlegte. »Das
kann ich nicht sagen, weil wir sein Motiv nicht kennen.«
Gennat schob seinen leer
geputzten Teller beiseite und lächelte. »Sie haben doch heute
keinen Dienst, oder? Dann fahren Sie mal heim zu Ihren Kindern. Falls der
Chef fragt, sage ich, dass Sie da waren.«
Leo stand dankend auf und
verabschiedete sich.
In der Eingangshalle traf er
auf Herbert von Malchow.
»Guten Tag, Herr
Kommissar«, sagte dieser ungewohnt beschwingt, und Leo fragte sich
schon, wieso ein Mann, der so ungern samstags Dienst tat, derart gut
gelaunt war.
»Was sagen Sie zu der
Sache mit Rathenau?«, erkundigte sich von Malchow.
»Die Zeiten werden
immer dunkler«, entgegnete Leo.
»Dunkler? Das würde
ich nicht sagen«, versetzte von Malchow und strich sich ein Stäubchen
vom makellosen Jackett. »Der Vorfall ist bedauerlich, aber wenig
überraschend. Vor allem nach Rapallo. Wer die Zeichen der Zeit nicht
erkennt
–«
»Verstehe ich Sie
richtig?«, fragte Leo. »Sie nehmen diese Verbrecher in Schutz?«
»Meine Worte zu deuten,
überlasse ich Ihnen, Herr Kommissar. Sie sind doch Kriminalist, da dürfte
es Ihnen nicht schwer fallen, oder?« Mit diesen Worten wollte von
Malchow an ihm vorbei ins Morddezernat marschieren, doch Leo vertrat ihm
den Weg.
»Auf jeden Fall fällt
mir die Kriminalarbeit leichter als Ihnen. Ihr Umgang mit Zeugen lässt
ebenfalls zu wünschen übrig, wie der Fall Matussek gezeigt hat.
Und ich brauche auch keine verlängerten Wochenenden, um mich von der
Arbeit zu erholen.«
»Sie können sich
ja bei Ihrem Vorgesetzten über mich beschweren, Herr Kommissar. Fragt
sich nur, wie gut Ihre Beziehungen nach oben sind. Und Sie sollten daran
denken, dass Sie schon einmal unangenehm aufgefallen sind.« Er warf
einen demonstrativen Blick auf Leos Narbe. »Sie mögen ja
glauben, Ihre Zeit sei angebrochen, aber da wäre ich mir nicht so
sicher. Heute ist die Empörung über den Mord an dem jüdischen
Bolschewistenfreund noch groß, aber das wird nicht so bleiben. Guten
Tag, Herr Kommissar.«
Die Frau schlenderte im
Schatten der Häuser entlang. Ihr Gang verriet noch Spuren von
Koketterie, die Figur war ganz passabel, doch ihr Gesicht konnte keinen
Freier täuschen. Sie wirkte verbraucht und alt, zu alt für ein
Gewerbe, in dem Gesicht und Körper nicht unbedingt schön,
zumindest aber jung zu sein hatten. Ihre Zeit war lange vorbei.
Was sie verdiente, reichte
kaum zum Leben. Wehmütig dachte sie an die plüschigen Bordelle,
in denen sie früher die Männer empfangen hatte. Dann waren die
billigen Absteigen gekommen, zuletzt die Straßen und Hauseinfahrten
hier im ehemaligen Scheunenviertel. Der Name passte nicht mehr, nachdem
man viele alte Gebäude abgerissen hatte, doch Mauern und Pflaster
verströmten noch immer den Geruch von Verfall und Verbrechen. In
einer Großstadt, die so viele junge Mädchen anzog, die oft
keinen Beruf hatten und irgendwie überleben mussten, war sie als Hure
von fünfzig Jahren überflüssig wie ein Kropf.
Nur dann und wann traf sie
auf Männer, die noch Interesse an ihrem Körper hatten. Wohl kaum
aus Mitleid, eher vielleicht aus dem Drang, sie zu demütigen, zu
sehen, wie weit sie sie im Preis drücken konnten.
Sie hatte gemerkt, dass es
kaum eine Grenze nach unten gab. Und nur wenig, was sie nicht für ein
bisschen Geld getan hätte.
Sie wusste nicht, wovon sie
am Ersten die Miete bezahlen und woher sie am Abend eine Suppe nehmen
sollte. Sie achtete nicht auf die zusammengesackten Gestalten in den
dunklen Hauseingängen, die Urinpfützen, die Kaschemmen, in denen
kriminelles Gesindel den nächsten Beutezug plante.
Sie sah ihn erst, als er sie
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