Leo Berlin
Säulenfront
des Museums war eine Rednertribüne aufgebaut, von der aus jemand zu
den Versammelten sprach.
»Wer redet gerade?«,
erkundigte sich Leo bei einem Mann mit dichtem Schnauzbart.
»Det is eener von der
USPD. Dann kommen noch welche von der SPD und der KPD. Und von der
Jewerkschaft. Det kann noch dauern.«
Eigentlich brauchte man die
Reden gar nicht zu hören. Das Bild des Platzes war auch so
beeindruckend genug, und Leo war froh, dass er an diesem Tag hierher
gekommen war.
Er hatte Georg einen
Geldschein zugesteckt, damit Ilse mit den Kindern in den Zoo gehen konnte,
während er sich die Lage in der Stadt ansah. Morgens hatte Marie sich
nach ihrer Freundin erkundigt.
»Vati, warum ist die
Inge nicht mehr da? Wir wollten doch seilhüpfen und die Puppen baden.«
Leo hatte seine Tochter
seufzend auf den Schoß genommen. »Ihre Mutti ist gestorben,
Marie.«
Er hatte ihr erklärt,
dass sie ähnlich wie Maries eigene Mutti gestorben sei.
»Aber dann kann sie
doch bei ihrem Vati wohnen und mit mir spielen, oder? Der Georg und ich
wohnen doch auch bei dir.«
Leo hatte seiner Tochter
sanft eine Haarsträhne aus der Stirn gestrichen. Wie einfach Kindern
die Welt doch schien. Warum mussten Erwachsene diese Einfachheit ständig
durchkreuzen? »Ihr Vati hat etwas Schlimmes getan. Etwas Verbotenes.«
»Ist er jetzt im Gefängnis?«
»Ja, das ist er. Und
deshalb kann er sich nicht um Inge kümmern. Sie wohnt jetzt bei ihrer
Tante auf dem Land, da hat sie es sicher gut.«
Marie hatte etwas traurig
genickt. »Darf sie die Kühe melken? Und die Fohlen streicheln?
So wie in meinem Bauernhofbuch?«
»Das kann schon sein.
Ich weiß nicht, ob ihre Tante einen Bauernhof hat, aber möglich
ist es schon. Vielleicht kann ich herausfinden, wo sie wohnt, dann kannst
du ein Bild malen und es ihr schicken.«
Marie hatte ihm einen Kuss
gegeben und war von seinem Knie gesprungen.
Im Gehen hatte er bei Ilse
eine seltsame Spannung gespürt. »Wann bist du wieder da?«,
hatte sie kurz angebunden gefragt.
»Ich beeile mich. Ich
bin um vier zurück.«
»Du hast ja Marlen.«
Er hatte die leisen Worte, die gar nicht für ihn bestimmt zu sein
schienen, sehr wohl gehört.
Er schaute hinüber zum
Alexanderplatz, wobei ihm einfiel, dass er noch Unterlagen im Büro
hatte, die er durchgehen wollte. Er sah auf die Uhr. Da ihm noch etwas
Zeit blieb, ging er rasch zum Präsidium hinüber. Es war ihm so
vertraut, dass er gar nicht mehr auf das ungeheuer wuchtige Bauwerk mit
den hellroten Ziegeln und den mächtigen Türmen achtete, die das
Eingangsportal und die vier Ecken zierten. Nur selten wurde er sich der
schieren Kraft bewusst, die die »Fabrik« ausstrahlte.
Er setzte sich ins
Wohnzimmer, zündete eine Zigarre an und hüllte sich paffend in
den duftenden Rauch. Er schlug ein Musterbuch auf, in dem Fräcke und
Gehröcke abgebildet waren. Verschiedene Schnitte, klassisches Schwarz
und gewagtere Farben, weiße Binder und steife Krägen, elegante
Zylinder in Schwarz und Ascot-Grau. Welche Schuhe? Natürlich Lack,
das war klar, nur über die Form musste er noch entscheiden. Dann
legte er das Buch beiseite und nahm eine schwere Mappe vom Tisch.
Die war weitaus
interessanter. Die Goldprägung auf dem Einband lautete »Atelier
Meiser. Elegante Damenmode aus Berlin«. Es mochte ungewöhnlich
erscheinen, dass er sich um die Auswahl des Brautkleides kümmerte,
doch Viola wusste, dass er in der Mode bewandert war und einen unfehlbaren
Geschmack besaß. Sie würde sich ganz auf ihn verlassen.
Er blätterte zurück.
Vorfreude war schön, aber zuerst kam einmal die Verlobung. Auch dafür
wollte er das Kleid aussuchen, so war es abgesprochen. Dunkelblau mit
einem Anklang von Violett, mit kleinem Ausschnitt und zarter Spitze, das wäre
passend. Keinen der neuen modernen Hüte, die wie ein umgestülpter
Kochtopf aussahen. Nein, ausladend und weiblich sollte er sein und ihr
Gesicht ein wenig geheimnisvoll erscheinen lassen.
Zufrieden klappte er die
Mappe zu. Er würde persönlich mit Vera Meiser sprechen und
Violas Verlobungskleid in Auftrag geben.
Den Knopf und die tote
Frau im Hinterhof hatte er schon vergessen. Und spürte in seiner
Euphorie auch nicht das leichte Zucken in der rechten Hand.
Leo nahm die Aktenmappe aus
der Schublade, schloss die Bürotür ab und wollte gerade gehen,
als hinter ihm eine
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