Leo Berlin
Rathenau.«
»Darum sind wir auch
hier«, rief Kern und schüttelte die erhobene Faust. Seine
Freunde machten ihrem Zorn mit wütenden Ausrufen Luft.
In diesem Moment stürmte
ein Trupp Männer in schwarzen Hemden auf Kerns Freunde zu und griff
sie ohne Vorwarnung an. Sie trugen schwarz-weiß-rote Armbinden und
prügelten mit brutaler Gewalt auf die Arbeiter ein. Kern krümmte
sich nach einem Schlag in den Magen am Boden und drehte sich zu Leo, der
das Rad fallen ließ und einen Ausweis aus der Tasche zog. »Kriminalpolizei,
sofort aufhören.« Die Schläger stoben davon, einer brüllte
noch »Scheißbolschewisten!« Ein Knüppel blieb
einsam auf dem Rasen liegen.
Als Kern vornübergebeugt
und keuchend vor ihm stand, sagte Leo trocken: »Gut, dass ich Georgs
Büchereikarte dabeihatte.«
Kern sah ihn fassungslos an,
dann grinste er mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Danke. Morgen gibt
es einen großen Demonstrationszug gegen die Rechten, Helfferich und
Konsorten. Bist du dabei, Leo?«
Der schüttelte den Kopf
und stieg wieder aufs Rad. »Du weißt doch, ich bin
Polizeibeamter. Demonstrier lieber für mich mit.« Mit diesen
Worten trat er wieder in die Pedale und schoss auf das Brandenburger Tor
zu. Je näher er der Stadtmitte kam, desto dichter drängten sich
die Menschen auf den Straßen. Spontane Reden wurden gehalten,
Agitatoren mischten sich unter Spaziergänger, die das schöne
Wetter genossen. Unter den Linden fuhr er über den Mittelstreifen,
weil dort weniger Betrieb war. Automobile und Droschken verstopften die
Straßen, und er wäre beinahe vom Rad gefallen, als ein Mann mit
Schiebermütze knapp vor ihm mit einem Droschkenkutscher Streit
anfing.
Leo wurde das Strampeln allmählich
leid, als endlich der Alexanderplatz mit der Fabrik vor ihm auftauchte. Er
stellte Roberts Rad in einem Keller ab und eilte ins Morddezernat. Viele
Kollegen standen auf den Fluren und unterhielten sich, es schien kein
anderes Thema als das Attentat zu geben. Leo rief sich Roberts Warnung ins
Gedächtnis, doch als eine massige Gestalt mit ausgestreckter Hand auf
ihn zukam, atmete er auf. Bei Ernst Gennat brauchte er kein Blatt vor den
Mund zu nehmen. Der schwergewichtige Kommissar nahm ihn mit in sein Büro
und bot ihm einen Platz auf dem Sofa an.
»Ich bin ja kein
Politischer, Wechsler, hab mich immer nur um meine Arbeit gekümmert.
Aber allmählich versteh ich die Welt nicht mehr. Sie etwa?«
Leo schüttelte den Kopf.
»Ein Stück Kuchen?«
Gennat deutete auf eine Platte mit drei Stücken Erdbeertorte. Leo,
der seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte, nahm dankend
an. Gennat klatschte noch einen dicken Löffel Sahne obendrauf, schob
Leo den Teller hin und bediente sich ebenfalls.
»Manchmal frag ich
mich, ob die Verbrecher in Moabit oder in den schnieken Salons sitzen«,
sinnierte Gennat. »Der Rathenau war doch gerade erst Minister. Hat
die Sache richtig angepackt. Die Herren von oben haben ihm immer wieder
Polizeischutz angeboten, aber den hat er einfach nicht gewollt.«
»Die Nationalen haben
den Mord geradezu herausgefordert«, meinte Leo. »Sie haben so
lange mit Worten auf ihn eingedroschen, bis jemand zur Waffe gegriffen
hat. Aber das werden die Menschen nicht einfach hinnehmen. Ich bin mit dem
Rad über die Charlottenburger Chaussee gekommen, da versammeln sich
schon Leute. Es werden bestimmt große Kundgebungen stattfinden.«
»Richtig so. Wo leben
wir denn? Die ganzen Raubmorde sind schlimm genug, aber wo kommen wir in
Deutschland hin, wenn es alltäglich wird, gewählte Politiker zu
ermorden? Denken Sie an Erzberger und die Sache mit Scheidemann.«
Ernst Gennats dralles Gesicht war noch röter als sonst.
»Wird eine
Sonderkommission für die Fahndung zusammengestellt?«
Gennat nickte und kaute.
»Deutschlandweit.« Dann hob er die Gabel. »Aber da
werden wir nicht mitmischen. Ich habe noch die beiden Giftmorde zu
bearbeiten, und Sie? Womit sind Sie doch gleich beschäftigt?«
Leo wusste, dass Gennat ständig
auf eine Reform der Kripoarbeit drängte und es ungeheuerlich fand,
dass die eine Mordkommission nicht wusste, was die andere gerade tat.
Daher führte er gern das eine oder andere Gespräch bei Kaffee
und Kuchen, um sich zu informieren. Niemand wusste, wie viele Fälle
unaufgeklärt blieben, weil man nicht die möglichen Zusammenhänge
zwischen einzelnen Morden
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