Leo Berlin
wohlbekannte Stimme ertönte. »Das kann doch
nicht wahr sein. Verbringen Sie etwa das ganze Wochenende im Büro?«,
fragte Ernst Gennat. »Ich dachte, das tun nur Junggesellen wie ich.«
»Ich habe mir die
Kundgebung angesehen und noch ein paar Unterlagen geholt.«
Der beleibte Kriminalbeamte
grinste. »Pech für Sie. Wir können nämlich Verstärkung
gebrauchen.«
Leo sah ihn fragend an.
»Eben wurde ein Frauenmord im Scheunenviertel gemeldet«, erklärte
Gennat. »In einem Hinterhof an der Linienstraße. Ich wollte
die Sache eigentlich von Malchow übergeben, bis von Fritzsche wieder
da ist.«
»Ich übernehme den
Fall«, sagte Leo spontan.
»Sie können die
Sache ebenso gut von Malchow überlassen, das ist vermutlich irgendein
schäbiger Prostituiertenmord. Ärger mit dem Luden, ein enttäuschter
Freier, was auch immer. Sie kennen doch die Gegend.«
Leo schüttelte den Kopf.
»Nein, nein, ich übernehme das. Walther soll mit dem Wagen und
der Ausrüstung nachkommen.« Er ging noch einmal in sein Büro
und rief zu Hause an. »Seid ihr schon zurück aus dem Zoo?«,
fragte er und teilte Ilse dann mit, er könne leider doch nicht pünktlich
zurück sein. »Macht euch noch einen schönen Tag.« Er
wollte schon auflegen, als er die verhaltene Wut in ihrer Stimme hörte.
»Tu das nie wieder, Leo.«
Mit leichtem Unbehagen hängte
er den Hörer ein.
Der Weg zur Linienstraße
war nicht allzu weit. Natürlich hätte er einen Wagen nehmen können,
zog es aber vor, zu Fuß durch das berüchtigte Viertel zu gehen.
Die meisten Kriminellen, die sich hier herumtrieben, kannten ihn nicht,
weil hauptsächlich die Abteilungen Raub und Sitte dort operierten. So
konnte er unterwegs in Ruhe nachdenken, ohne von ihnen behelligt zu
werden.
Plötzlich fielen ihm
Ilses Worte ein, als er die Wohnung verlassen hatte. »Du hast ja
Marlen.« Das hatte sie wohl nicht verwunden. Er hatte Marlen vor
anderthalb Jahren kennen gelernt. Sie hatten sich in einem Nachtlokal
unterhalten, mehrmals getroffen, miteinander geschlafen. Erst nach einigen
Wochen hatte er herausgefunden, dass sie von ihren Bekanntschaften mit
wohlhabenden Männern lebte. Das hatte ihn getroffen, auch wenn sie
keine Straßenhure war, die mit jedem ins Bett stieg. »Hure
bleibt Hure«, hatte er ihr ins Gesicht geschrien.
»Ich habe dir doch
gefallen. Im Bett habe ich dir gefallen und auch so. Und ich habe nie Geld
von dir verlangt«, hatte Marlen ganz ruhig geantwortet. Ihre letzten
Worte gingen im Knall der zuschlagenden Tür unter.
Doch er war wiedergekommen.
Selten; bei scheußlichen Fällen, die ihm nachgingen, oder wenn
es Spannungen mit Ilse gab. Sie schliefen nicht immer miteinander. Aber
wenn ihm danach war, ging er lieber mit ihr ins Bett als mit irgendeinem Mädchen
von der Straße.
Als Marlen ihn einmal zu
Hause anrief und Ilse an den Apparat ging, war es zur ersten richtigen
Auseinandersetzung seit Dorotheas Tod gekommen. Ilse war hin- und
hergerissen zwischen der Angst, jahrelang in einem Leben mit ihm und
seinen Kindern eingesperrt zu sein, und der Furcht, diese immerhin
vertraute Gemeinschaft zu verlieren.
In dieser Gegend war Leo
immer auf der Hut und griff instinktiv nach hinten, als eine Hand über
seine Manteltasche strich. Er packte sie am Gelenk und fuhr herum. Der
Junge reichte ihm bis zur Schulter. Rotes Haar, blasses, hungriges
Gesicht, zerlumpte Kleidung. Der kleine Dieb wollte fliehen, doch Leos
Griff war eisern. Mit der anderen Hand zog er seinen Ausweis aus der
Tasche. »Für einen Taschenkrebs bist du ganz schön dämlich.
Aber es ist ja noch alles da.« Der Junge schaute ihn misstrauisch
an. Solche Kinder hatten die Angst vor der Polizei mit der Muttermilch
eingesogen. Leo schaute zum Straßenschild hinauf. Linienstraße.
»Du könntest mir
vielleicht helfen. Hast du letzte Nacht irgendetwas Außergewöhnliches
gehört?«
Der kleine Taschendieb sah
ihn verunsichert an. »Wat denn? Ick weeß nich –«
»Hier in der Straße
wurde eine Frau tot aufgefunden.«
»Damit hab ick nüscht
zu tun, Herr Kommissar, det is die Erna Klante, die wohnte da drüben
im Hinterhof in so ’n Kabäuschen. Die ham se allejemacht.
Erdrosselt, hat der lange Erwin jesacht.«
»Hast du die Erna
gekannt?«
»Na ja, anjefasst hab
ick se nich. Die war mir viel zu alt«, platzte er heraus. »Aber
ick hab se manchmal jesehn,
Weitere Kostenlose Bücher