Leo Berlin
hielt ihrem
Vater ein besonders dickes Exemplar hin. »Für dich, Vati. Hab
ich dem Georg weggeschnappt.«
Leo biss lächelnd in die
Erdbeere. Der Saft tropfte ihm übers Kinn. Er wischte ihn mit der
Hand ab und dachte, solche Tage müsste es öfter geben. Vergessen
war der Fall Sartorius, als er sich von Marie an der Hand zum Erdbeerbeet
ziehen ließ. »Guck mal, Vati, so viele haben wir schon.«
Stolz zeigte sie auf die Schüssel, die zwischen den Reihen stand. Sie
war bereits halb voll.
»Wie habt ihr das denn
geschafft?«, fragte er Georg.
»Tja, wir sind eben
schnell. Da hängt aber auch ’ne Menge dran. Die würde
Robert gar nicht alleine schaffen.«
Leo hockte sich hin und
bestaunte einen grün schillernden Käfer, den Marie entdeckt
hatte. Dann stand er auf und sah über den Zaun in die Nachbargärten.
Zierpflanzen gab es nur wenige, die meisten Leute zogen Obst und Gemüse,
um ihren mageren Speiseplan zu bereichern. Glücklich, wer in diesen
Zeiten einen Schrebergarten besaß.
Leo sah auf die Uhr. Halb
drei. Plötzlich hörte er eine laute Stimme am Gartentor und ging
zur Laube zurück. Ein untersetzter Mann in verschwitztem Hemd eilte
auf Robert zu und rief: »Der Rathenau ist tot!«
Keuchend blieb er vor dem
Gartentisch stehen. »Heute um elfe. Auf dem Weg ins Ministerium ham
se’n erschossen. Im Auto.«
»Jetzt mal langsam«,
sagte Leo. »Woher wissen Sie das?«
»Hab’s in der
Stadt gehört, die Leute haben von nüscht anderem jeredet. Im
offenen Wagen isser durch ’n Grunewald gefahrn. Dann ham se auf ihn
gefeuert und ’ne Handgranate jeschmissen.« Damit eilte er
weiter zum nächsten Garten.
Leo und Robert sahen sich an.
Die Polizei hatte den Außenminister mehrfach vor Attentaten gewarnt,
doch er hatte jeglichen Polizeischutz abgelehnt. Er war schon lange die
Zielscheibe der Nationalisten, und nachdem vor zwei Monaten der Vertrag
mit der Sowjetunion unterzeichnet worden war, hassten sie ihn noch mehr.
»Du kennst doch das
Lied: Auch Rathenau, der Walter, erreicht kein hohes Alter, knallt ab den
Walter Rathenau, die gottverdammte Judensau«, sagte Leo bitter.
»Jetzt haben sie ihre Drohung wahr gemacht.«
»Meinst du, wir müssen
in die Fabrik?«, fragte Robert.
»Wäre wohl besser.
Aber es reicht, wenn einer von uns fährt. Bleibst du mit den Kindern
hier?«
»Lass mich fahren, ich
bin mit dem Rad da. Die beiden freuen sich doch, wenn sie am Wochenende
mit dir zusammen sind.«
»Ich nehme das Rad und
beeile mich. Rathenau war ein anständiger Mann, von denen gibt es
heute viel zu wenige. Verdammt.« Wütend trat er einen Stein
gegen das Tischbein.
»Leo, pass auf, was du
sagst.«
Er schaute Robert überrascht
an. »Wie meinst du das?«
»Na ja, es mag wohl den
einen oder anderen geben, der über Rathenaus Tod nicht so traurig ist
wie du.«
»Wie Recht du hast«,
meinte Leo lächelnd, doch seine Augen blieben ernst. Er
verabschiedete sich von Georg und Marie, die zwar ein wenig enttäuscht
waren, aber abgelenkt wurden, als Robert ihnen einen Eimer zum
Raupensammeln hinstellte.
»Bis nachher, Vati.«
Im Gehen hörte er noch,
wie Robert seinem Sohn erklärte, dass ein wichtiger und guter Mann
erschossen worden sei.
Leo fuhr so schnell, dass ihm
das Hemd bald am Rücken klebte. Jetzt schwitze ich das schöne
Bier wieder aus, dachte er bei sich. Eigentlich musste er immer nur
geradeaus fahren, allerdings an die zwanzig Kilometer. Er rollte durch
Spandau und Charlottenburg, vorbei am Schloss und bog in die
Charlottenburger Chaussee ein, die beiderseits vom Tiergarten gesäumt
wurde. Menschen bevölkerten den Park, von denen die meisten nicht wie
Spaziergänger aussahen. Auf den Rasenflächen standen viele in
Gruppen zusammen und diskutierten erregt, einer hielt ein selbstgemaltes
Plakat mit der Aufschrift »Mörder« hoch. Auf einem
anderen Schild war mit Wandfarbe verzeichnet: »Erst Karl und Rosa,
jetzt Erzberger und Rathenau!« Unruhe lag in der Luft, und Leo sah
auch einige Schupos am Rande des Parks.
Als er am Großen Stern
vorbeiradelte, rief eine bekannte Stimme: »He, Leo, wo willst du
denn hin?« Er hielt an und entdeckte Joachim Kern, einen Arbeiter
aus dem Nachbarhaus, mit dem er gelegentlich eine Molle in der Eckkneipe
trank. Leo wusste, dass Kern KPD-Mitglied war.
»Ich muss ins Präsidium,
wegen dem Mord an
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