Leo Berlin
überholte und vor ihr stehen blieb.
»Ja?«
»Sind Sie . . . ich würde
gern . . .« Er druckste herum, schien sich in seiner Haut überhaupt
nicht wohl zu fühlen, schaute nach links und rechts, ob ihn auch
niemand beobachtete. Die Frau ergriff die Gelegenheit, doch noch zu ihrer
Suppe zu kommen.
»Sie wollen ein
bisschen Unterhaltung?«
Der Mann nickte.
Also war ihr Umherstreifen
doch nicht vergebens gewesen. Rasch führte sie ihn durch ein Gewirr
enger Gassen, durch Torbögen und über mit Gerümpel
vollgestopfte Hinterhöfe, bis sie an der Rückwand eines Hauses
stehen blieb. Daran klebte wie ein Geschwür ein kleiner gemauerter
Verschlag.
»Hier?«
Sie nickte und trat vor ihm
ein. Der Raum roch muffig, das einzige Fenster war so schmutzig, dass
selbst bei Tage kaum Licht hereingedrungen wäre.
Die Frau zündete eine
Gaslampe an, stellte sie auf den Tisch und wandte sich um. Sie legte ihm
eine Hand an die Wange.
Das Licht schien auf das
Gesicht unter der Hutkrempe. Überrascht trat sie einen Schritt zurück.
»Ich kenn Sie doch
–«
»Tatsächlich?«
»Ja, ich hab ein Gedächtnis
für Gesichter. Sie waren jünger, stimmt’s? Damals war ich
noch nicht auf der Straße. Muss lange her sein.«
Der Mann schaute angestrengt
auf seine Finger, die in eleganten Handschuhen steckten. »Ich bin
nicht hier, um Konversation zu machen.«
»Natürlich, ist
auch nicht weiter wichtig.«
»So würde ich es
nicht betrachten. Ich denke noch oft an den Besuch bei dir.«
Sie achtete nicht auf den
seltsamen Ton in seiner Stimme. Streifte die Schuhe ab, wollte mit beinahe
anrührender Laszivität die Strümpfe herunterrollen. Ein
Schatten fiel über ihre Schulter. Plötzlich wurde es kalt im
Raum. Dann zog sich der Schal um ihren Hals zusammen.
Er streifte die leichten
cognacfarbenen Wildlederhandschuhe mit den kleinen Knöpfen ab und
legte sie in den Kleiderschrank. Viola würde erst morgen von ihrer
Reise zurückkehren, da konnte er eine Nacht und einen Morgen das Gefühl
unbedeckter Hände genießen. Gut, dass die Handschuhe unversehrt
geblieben waren. Zu dumm, wenn er diese erlesenen Exemplare hätte
ersetzen müssen.
Es war nicht ganz einfach
gewesen, sie zu finden. Aber als er sie dann endlich stellte, hatte er förmlich
in ihrer Überraschung geschwelgt. Er hatte sie in dem Glauben
gelassen, er wolle ihre Dienste in Anspruch nehmen, und war ihr in das schäbige
Zimmerchen gefolgt. Dabei hatte er unwillkürlich an das üppige
Boudoir ihrer ersten Begegnung denken müssen. Doch mittlerweile war
sie so alt, dass sie für jeden Freier, der sich zu ihr verirrte,
dankbar sein musste.
Über der Stuhllehne
hing ein billiger kunstseidener Schal, er musste das Tuch in seiner Tasche
gar nicht benutzen. Als sie sich abwandte, um sich auszuziehen, hatte er
ihr den bunten Stoff um den Hals geschlungen und festgezogen, bis sie ganz
ruhig wurde.
7
Das Wetter am Sonntag war schön,
und er fuhr mit der Elektrischen nach Osten, bis ihn der Menschenstrom,
der zum Brandenburger Tor und weiter drängte, zum Aussteigen lockte.
Er spürte die kaum verhohlene Wut der Menschen, die Empörung
über den dreisten Mord auf offener Straße, den Zorn auf jene,
die sich den Kaiser und die alte Ordnung zurückwünschten. Hier
demonstrierten nicht nur Arbeiter. Menschen aller Gesellschaftsschichten
hatten sich zusammengefunden, als hätte der Mord die Schranken
zwischen ihnen vorübergehend aufgehoben. Nur die Kaisertreuen und
extremen Nationalisten waren zu Hause geblieben, da sie den Mann, der
einen Vertrag mit Russland geschlossen hatte, nicht betrauern konnten.
Vom Pariser Platz an wurde
das Gedränge beinahe unerträglich, die Menge schob sich auf
ganzer Breite Unter den Linden entlang. Die Bäume ragten wie grüne
Leuchttürme aus dem Meer der Köpfe. Erstaunlich war die Ruhe,
die überall herrschte und durch die sich dieser Auflauf von den
Kundgebungen der Revolutionstage unterschied. Dennoch war Leo froh, als er
endlich den Lustgarten erreicht hatte.
Auf dem weiten Platz vor dem
Alten Museum hatte sich die größte Menschenmenge versammelt,
die Leo bisher erlebt hatte. Von den Wasserspielen und Rasenflächen
war nichts mehr zu sehen, nur das Reiterstandbild von Wilhelm III. ragte
aus dem Meer der Hüte und Schirmmützen hervor. Überall
flatterten rote und schwarz-rot-goldene Fahnen. Vor der breiten
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