Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leo Berlin

Leo Berlin

Titel: Leo Berlin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Goga
Vom Netzwerk:
überholte und vor ihr stehen blieb.
    »Ja?«
    »Sind Sie . . . ich würde
     gern . . .« Er druckste herum, schien sich in seiner Haut überhaupt
     nicht wohl zu fühlen, schaute nach links und rechts, ob ihn auch
     niemand beobachtete. Die Frau ergriff die Gelegenheit, doch noch zu ihrer
     Suppe zu kommen.
    »Sie wollen ein
     bisschen Unterhaltung?«
    Der Mann nickte.
    Also war ihr Umherstreifen
     doch nicht vergebens gewesen. Rasch führte sie ihn durch ein Gewirr
     enger Gassen, durch Torbögen und über mit Gerümpel
     vollgestopfte Hinterhöfe, bis sie an der Rückwand eines Hauses
     stehen blieb. Daran klebte wie ein Geschwür ein kleiner gemauerter
     Verschlag.
    »Hier?«
    Sie nickte und trat vor ihm
     ein. Der Raum roch muffig, das einzige Fenster war so schmutzig, dass
     selbst bei Tage kaum Licht hereingedrungen wäre.
    Die Frau zündete eine
     Gaslampe an, stellte sie auf den Tisch und wandte sich um. Sie legte ihm
     eine Hand an die Wange.
    Das Licht schien auf das
     Gesicht unter der Hutkrempe. Überrascht trat sie einen Schritt zurück.
    »Ich kenn Sie doch
     –«
    »Tatsächlich?«
    »Ja, ich hab ein Gedächtnis
     für Gesichter. Sie waren jünger, stimmt’s? Damals war ich
     noch nicht auf der Straße. Muss lange her sein.«
    Der Mann schaute angestrengt
     auf seine Finger, die in eleganten Handschuhen steckten. »Ich bin
     nicht hier, um Konversation zu machen.«
    »Natürlich, ist
     auch nicht weiter wichtig.«
    »So würde ich es
     nicht betrachten. Ich denke noch oft an den Besuch bei dir.«
    Sie achtete nicht auf den
     seltsamen Ton in seiner Stimme. Streifte die Schuhe ab, wollte mit beinahe
     anrührender Laszivität die Strümpfe herunterrollen. Ein
     Schatten fiel über ihre Schulter. Plötzlich wurde es kalt im
     Raum. Dann zog sich der Schal um ihren Hals zusammen.
    Er streifte die leichten
     cognacfarbenen Wildlederhandschuhe mit den kleinen Knöpfen ab und
     legte sie in den Kleiderschrank. Viola würde erst morgen von ihrer
     Reise zurückkehren, da konnte er eine Nacht und einen Morgen das Gefühl
     unbedeckter Hände genießen. Gut, dass die Handschuhe unversehrt
     geblieben waren. Zu dumm, wenn er diese erlesenen Exemplare hätte
     ersetzen müssen.
    Es war nicht ganz einfach
     gewesen, sie zu finden. Aber als er sie dann endlich stellte, hatte er förmlich
     in ihrer Überraschung geschwelgt. Er hatte sie in dem Glauben
     gelassen, er wolle ihre Dienste in Anspruch nehmen, und war ihr in das schäbige
     Zimmerchen gefolgt. Dabei hatte er unwillkürlich an das üppige
     Boudoir ihrer ersten Begegnung denken müssen. Doch mittlerweile war
     sie so alt, dass sie für jeden Freier, der sich zu ihr verirrte,
     dankbar sein musste.
    Über der Stuhllehne
     hing ein billiger kunstseidener Schal, er musste das Tuch in seiner Tasche
     gar nicht benutzen. Als sie sich abwandte, um sich auszuziehen, hatte er
     ihr den bunten Stoff um den Hals geschlungen und festgezogen, bis sie ganz
     ruhig wurde.

 
    7
    Das Wetter am Sonntag war schön,
     und er fuhr mit der Elektrischen nach Osten, bis ihn der Menschenstrom,
     der zum Brandenburger Tor und weiter drängte, zum Aussteigen lockte.
     Er spürte die kaum verhohlene Wut der Menschen, die Empörung
     über den dreisten Mord auf offener Straße, den Zorn auf jene,
     die sich den Kaiser und die alte Ordnung zurückwünschten. Hier
     demonstrierten nicht nur Arbeiter. Menschen aller Gesellschaftsschichten
     hatten sich zusammengefunden, als hätte der Mord die Schranken
     zwischen ihnen vorübergehend aufgehoben. Nur die Kaisertreuen und
     extremen Nationalisten waren zu Hause geblieben, da sie den Mann, der
     einen Vertrag mit Russland geschlossen hatte, nicht betrauern konnten.
    Vom Pariser Platz an wurde
     das Gedränge beinahe unerträglich, die Menge schob sich auf
     ganzer Breite Unter den Linden entlang. Die Bäume ragten wie grüne
     Leuchttürme aus dem Meer der Köpfe. Erstaunlich war die Ruhe,
     die überall herrschte und durch die sich dieser Auflauf von den
     Kundgebungen der Revolutionstage unterschied. Dennoch war Leo froh, als er
     endlich den Lustgarten erreicht hatte.
    Auf dem weiten Platz vor dem
     Alten Museum hatte sich die größte Menschenmenge versammelt,
     die Leo bisher erlebt hatte. Von den Wasserspielen und Rasenflächen
     war nichts mehr zu sehen, nur das Reiterstandbild von Wilhelm III. ragte
     aus dem Meer der Hüte und Schirmmützen hervor. Überall
     flatterten rote und schwarz-rot-goldene Fahnen. Vor der breiten

Weitere Kostenlose Bücher