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Leo Berlin

Leo Berlin

Titel: Leo Berlin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Goga
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und half der Frau, die gestolpert war, vom Boden auf.
    Sie war noch jung, doch ihr
     Gesicht wirkte verkniffen vor Hunger. Die Hand, mit der sie sich an seinem
     Ärmel festhielt, sah aus wie eine Kralle, und er vermutete, dass sie
     aus Schwäche vor den Wagen getorkelt war.
    »Haben Sie sich
     wehgetan?«
    Stahnke war dazugetreten und
     hob ein Einkaufsnetz auf, das neben dem linken Vorderrad auf dem Gehweg
     lag. Es war leer. Er reichte es der Frau, die die Männer, die aus dem
     großen Wagen gestiegen waren, verwirrt ansah.
    »Nein, ich wollte nur .
     . . es gab Brot, aber dann war schon alles weg. Sie haben mich woandershin
     geschickt.«
    Leo schob sie sanft beiseite,
     stieg wieder ein und fuhr ruckartig auf die Straße hinaus.
    Stahnke räusperte sich.
     »Das geht einem nahe, Chef, aber es sind so viele. Seit dem Krieg läuft
     es einfach nicht mehr rund. Bei mir im Haus hat sich letzte Woche einer
     erhängt, war ohne Arbeit. Hat Frau und drei Kinder, die stehen demnächst
     auf der Straße.«   
    Leo war es nicht gewöhnt,
     dass der Kriminalassistent so offen sprach. »Ja, wir sollten nicht
     jammern wegen unserer schmalen Gehälter. Immerhin sind die Stellen
     bei der Polizei sicher.«
    »Dafür sorgen
     schon die da«, warf Berns ein, dem bei ernsten Unterhaltungen
     unbehaglich wurde, und deutete auf die rechte Straßenseite, wo ein
     Streifenpolizist gerade einem Mann mit Schiebermütze die Arme auf den
     Rücken drehte und dessen Taschen abklopfte. Eine goldene Uhr blitzte
     auf, die sicher nicht dem Mann mit der Mütze gehörte.
    »Das war Finger-Paul«,
     meinte Stankowiak lakonisch. »Den lassen sie immer wieder laufen. Nächsten
     Monat hockt der mit seinen Kumpanen im ›Augustkeller‹ und
     plant was Neues.«
    Leo hörte mit einem Ohr
     zu, während er den Wagen durch die engen Straßen des Viertels
     lenkte. Die Gegend übte eine unbestreitbare Faszination auf ihn aus,
     die vermutlich in ihren starken Gegensätzen begründet lag. Die
     Grenadierstraße mit ihren jüdischen Geschäften und
     Betstuben, Religionsschulen und kleinen Synagogen grenzte unmittelbar an
     die schäbigen Bordelle und Kaschemmen der Nebenstraßen, in
     denen sich Verbrecher jeglicher Couleur trafen. Das »Dalles«,
     das größte der Lokale, galt als Treffpunkt für Einbrecher,
     Räuber, Fälscher und Taschendiebe, die hier ihre Pläne
     ausheckten. Daneben gab es Läden, die billigen Tand anboten, und
     kleine Kinos mit den »neuesten Sensationsfilmen«. In diesem
     Viertel mit seinen dichtgedrängten, schmalen Häusern und eng
     verwinkelten Gassen lebten tiefreligiöse Menschen Tür an Tür
     mit kriminellem Gesindel, Luden und heruntergekommenen Huren.
    Er parkte an der Ecke
     Rosenthaler und Linienstraße, nicht weit von dem Haus, in dessen
     Hinterhof der Mord geschehen war. Schon jetzt, am späten Vormittag,
     trieben sich hier zwielichtige Gestalten herum. An einer Ecke stand ein
     Leierkastenmann, der sich ständig kratzte, so dass man geradezu
     meinte, die Läuse über seinen Kopf wimmeln zu sehen. Grell
     geschminkte Frauen in leuchtend bunten Kleidern drückten sich an den
     Hauswänden und in Eingängen herum. Die unauffälligen
     Fassaden der Lokale ließen nicht ahnen, was in ihrem Inneren
     vorging. Ein Lumpensammler lenkte sein Fuhrwerk kollernd über das
     Pflaster, doch hier hatte niemand etwas zu verschenken.
    »Stankowiak, Sie kommen
     mit mir, Stahnke und Berns, Sie fangen drüben im ›Katakombenkeller‹
     an. Wir nehmen die andere Straßenseite. Fragen Sie auch in den Geschäften
     nach. Um fünf treffen wir uns wieder hier.«
    »Mich juckt’s
     schon, wenn ich nur aus dem Wagen steige«, knurrte Berns mit einem
     Blick auf den Leierkastenmann. Die beiden Kriminalassistenten zogen los.
    Stankowiak zündete sich
     eine Zigarette an. »Sie auch, Herr Kommissar?«
    »Nein danke.« Leo
     sah sich um. Ein paar Häuser weiter befand sich ein kleines
     Kolonialwarengeschäft. Die Schaufenster links und rechts der Tür
     waren mit Haushaltswaren vollgestopft, die offenbar seit Jahren niemand
     mehr berührt hatte. Mausefallen, Wischlappen, Emailleschüsseln,
     über allem hing der gleiche graue Staubschleier.
    Im Türrahmen bemerkte
     Leo eine Höhlung, in der eine kleine Pergamentrolle steckte. Die
     Schrift über der Ladentür war hebräisch.
    Stankowiak sah hoch und schüttelte
     bedauernd den Kopf. »Das kann ich nicht lesen. Ich bin Katholik.«
    »Aber Sie können
     dolmetschen, falls die

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