Leo Berlin
und half der Frau, die gestolpert war, vom Boden auf.
Sie war noch jung, doch ihr
Gesicht wirkte verkniffen vor Hunger. Die Hand, mit der sie sich an seinem
Ärmel festhielt, sah aus wie eine Kralle, und er vermutete, dass sie
aus Schwäche vor den Wagen getorkelt war.
»Haben Sie sich
wehgetan?«
Stahnke war dazugetreten und
hob ein Einkaufsnetz auf, das neben dem linken Vorderrad auf dem Gehweg
lag. Es war leer. Er reichte es der Frau, die die Männer, die aus dem
großen Wagen gestiegen waren, verwirrt ansah.
»Nein, ich wollte nur .
. . es gab Brot, aber dann war schon alles weg. Sie haben mich woandershin
geschickt.«
Leo schob sie sanft beiseite,
stieg wieder ein und fuhr ruckartig auf die Straße hinaus.
Stahnke räusperte sich.
»Das geht einem nahe, Chef, aber es sind so viele. Seit dem Krieg läuft
es einfach nicht mehr rund. Bei mir im Haus hat sich letzte Woche einer
erhängt, war ohne Arbeit. Hat Frau und drei Kinder, die stehen demnächst
auf der Straße.«
Leo war es nicht gewöhnt,
dass der Kriminalassistent so offen sprach. »Ja, wir sollten nicht
jammern wegen unserer schmalen Gehälter. Immerhin sind die Stellen
bei der Polizei sicher.«
»Dafür sorgen
schon die da«, warf Berns ein, dem bei ernsten Unterhaltungen
unbehaglich wurde, und deutete auf die rechte Straßenseite, wo ein
Streifenpolizist gerade einem Mann mit Schiebermütze die Arme auf den
Rücken drehte und dessen Taschen abklopfte. Eine goldene Uhr blitzte
auf, die sicher nicht dem Mann mit der Mütze gehörte.
»Das war Finger-Paul«,
meinte Stankowiak lakonisch. »Den lassen sie immer wieder laufen. Nächsten
Monat hockt der mit seinen Kumpanen im ›Augustkeller‹ und
plant was Neues.«
Leo hörte mit einem Ohr
zu, während er den Wagen durch die engen Straßen des Viertels
lenkte. Die Gegend übte eine unbestreitbare Faszination auf ihn aus,
die vermutlich in ihren starken Gegensätzen begründet lag. Die
Grenadierstraße mit ihren jüdischen Geschäften und
Betstuben, Religionsschulen und kleinen Synagogen grenzte unmittelbar an
die schäbigen Bordelle und Kaschemmen der Nebenstraßen, in
denen sich Verbrecher jeglicher Couleur trafen. Das »Dalles«,
das größte der Lokale, galt als Treffpunkt für Einbrecher,
Räuber, Fälscher und Taschendiebe, die hier ihre Pläne
ausheckten. Daneben gab es Läden, die billigen Tand anboten, und
kleine Kinos mit den »neuesten Sensationsfilmen«. In diesem
Viertel mit seinen dichtgedrängten, schmalen Häusern und eng
verwinkelten Gassen lebten tiefreligiöse Menschen Tür an Tür
mit kriminellem Gesindel, Luden und heruntergekommenen Huren.
Er parkte an der Ecke
Rosenthaler und Linienstraße, nicht weit von dem Haus, in dessen
Hinterhof der Mord geschehen war. Schon jetzt, am späten Vormittag,
trieben sich hier zwielichtige Gestalten herum. An einer Ecke stand ein
Leierkastenmann, der sich ständig kratzte, so dass man geradezu
meinte, die Läuse über seinen Kopf wimmeln zu sehen. Grell
geschminkte Frauen in leuchtend bunten Kleidern drückten sich an den
Hauswänden und in Eingängen herum. Die unauffälligen
Fassaden der Lokale ließen nicht ahnen, was in ihrem Inneren
vorging. Ein Lumpensammler lenkte sein Fuhrwerk kollernd über das
Pflaster, doch hier hatte niemand etwas zu verschenken.
»Stankowiak, Sie kommen
mit mir, Stahnke und Berns, Sie fangen drüben im ›Katakombenkeller‹
an. Wir nehmen die andere Straßenseite. Fragen Sie auch in den Geschäften
nach. Um fünf treffen wir uns wieder hier.«
»Mich juckt’s
schon, wenn ich nur aus dem Wagen steige«, knurrte Berns mit einem
Blick auf den Leierkastenmann. Die beiden Kriminalassistenten zogen los.
Stankowiak zündete sich
eine Zigarette an. »Sie auch, Herr Kommissar?«
»Nein danke.« Leo
sah sich um. Ein paar Häuser weiter befand sich ein kleines
Kolonialwarengeschäft. Die Schaufenster links und rechts der Tür
waren mit Haushaltswaren vollgestopft, die offenbar seit Jahren niemand
mehr berührt hatte. Mausefallen, Wischlappen, Emailleschüsseln,
über allem hing der gleiche graue Staubschleier.
Im Türrahmen bemerkte
Leo eine Höhlung, in der eine kleine Pergamentrolle steckte. Die
Schrift über der Ladentür war hebräisch.
Stankowiak sah hoch und schüttelte
bedauernd den Kopf. »Das kann ich nicht lesen. Ich bin Katholik.«
»Aber Sie können
dolmetschen, falls die
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