Leo Berlin
sollten uns umhören, ob jemand von ihrer Krankheit wusste.«
Teure Viola,
ich weiß, dass Du heute
in Berlin zurückerwartet wirst. Da ich ein altmodischer Mensch bin,
schreibe ich Dir, bevor wir uns sehen. Ein Brief ist ein wunderbarer Weg,
um einem lieben Menschen mitzuteilen, was einen im Innersten bewegt.
Deine Abwesenheit hat mich
betrübt, aber da ich ständig Dein Bild vor Augen hatte, konnte
ich daraus Kraft schöpfen. Ich kann es kaum erwarten, endlich Tag für
Tag mit Dir zusammen zu sein. Mit Dir zu reisen. Die Welt zu sehen.
Manchmal kommt es mir vor,
als hätte ich jahrelang in einem Kokon gelebt, eingesponnen in meine
Einsamkeit. Als hätte ich die Welt wie durch eine Glasscheibe
gesehen, die mich von den anderen Menschen trennte.
Dann kamst Du. Ich werde nie
vergessen, wie ich Dich auf dem Silvesterball zum ersten Mal gesehen habe.
Dein Kleid war schilfgrün, Du hast ausgesehen wie eine Wassernixe,
die über das Parkett schwebt, ohne es zu berühren.
Nun ist der Kokon zerbrochen.
Ich winde mich heraus, mühsam noch, mache unsichere Schritte, sehe
die Welt wie ein Schlafender, der endlich die Augen öffnet. Doch mit
Deiner Hilfe werde ich wieder gehen lernen. Es gibt nicht mehr viel, was
mich von unserem gemeinsamen Leben trennt. Nur noch kurze Zeit, dann
werden wir eine Zukunft beginnen, die sich wie ein prachtvoller Teppich
vor uns entrollt.
Lass uns am Sonntag am
Wannsee spazieren gehen. Dort können wir uns ungestört
unterhalten, das schöne Wetter genießen und endlich einmal ganz
allein sein.
In tiefer Liebe,
Dein Max
Hoffentlich hatte er sich
von seinem Überschwang nicht zu sehr hinreißen lassen. Manche
Formulierungen klangen ein wenig gekünstelt oder unbeholfen, aber das
Gefühl, das er damit ausdrücken wollte, war echt. Es fiel ihm
einfach leichter, seine Gedanken dem unberührten Papier
anzuvertrauen, als sie Viola persönlich zu gestehen. Er war kein
guter Redner, kein Schmeichler. Und in letzter Zeit unterliefen ihm
manchmal so dumme Versprecher.
Die Kriminalassistenten
Stahnke und Berns traten ein, wenig später kam auch Ernst Stankowiak.
Leo bat die drei Männer,
Platz zu nehmen. Er selbst setzte sich auf die Schreibtischkante und
beugte sich vor. »Sie wissen, dass wir vor einer schwierigen Aufgabe
stehen. Da wir nicht ausschließen können, dass es ein
Milieumord war, bei dem es um rivalisierende Luden oder kriminelle
Machenschaften ging, werden wir das Viertel gründlich durchleuchten.
Das heißt, alle in Frage kommenden Kaschemmen, Bordelle,
Speisehallen und Geschäfte überprüfen.«
»Wir sollten zuerst mit
den Wirten sprechen«, meldete sich Stankowiak zu Wort. »Die
wissen eine Menge über ihre Gäste.«
Leo nickte ihm zu. »Sie
kennen sich auf dem Kiez besser aus als wir, daher wollte ich Sie gern in
meiner Mannschaft haben. Und denken Sie daran, es geht heute nur um die
Prostituierte Erna Klante, ihre Vergangenheit, ihre Kunden, ob sie einen
Luden hatte, wie lange sie im Viertel auf den Strich ging und so weiter.
Wer sie wann und wo zuletzt gesehen hat. Ob noch jemand außer dem
Zeugen Zylberstein den eleganten Freier bemerkt hat. Verstanden?«
Stahnke, Berns und Stankowiak
nickten.
Leo deutete auf den
Stadtplan, der neben der Tür hing. »Wir fangen mit der
Linienstraße an, ›Blauer Strumpf‹, ›Katakombenkeller‹
und so weiter. Die Straße ist ziemlich lang, dafür müssen
wir viel Zeit einplanen. Da die Tote dort gewohnt hat, sollten wir gerade
in dieser Straße mit größter Sorgfalt vorgehen. Danach
kommen ›Augustkeller‹ und ›Joachimskeller‹ an
die Reihe. Und vergesst nicht das ›Dalles‹.«
Er wandte sich an Stankowiak:
»Können Sie mir Namen von Hautärzten besorgen, die auch
Prostituierte behandeln?«
»Natürlich. Wir
haben eine Liste im Dezernat. War die Frau krank?«
»Der Leichendoktor hat
Anzeichen einer früheren Syphiliserkrankung festgestellt.«
Der Pole runzelte die Stirn.
»Ich habe nie etwas darüber gehört. Sie hieß nur die
alte Erna, es gab keinen Spitznamen, der irgendwie auf ihre Krankheit
hingedeutet hätte. Aber ich höre mich mal bei den Kollegen um,
die schon länger dabei sind.«
Leo nickte. »Gut. Gehen
wir los.«
Im Hof des Gebäudes
stiegen sie in einen der schwarzen Dienstwagen. Als Leo aus der
Toreinfahrt bog, lief ihnen um ein Haar eine Frau vor den Wagen. Er hielt
an
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